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H.Schiele: "Street"

Was ist Straßenfotografie? Die Technik und die Zeit Was ist ein Straßenbild? Klassisches "Street": Jahrmarkt, Gaukler, Menschen, Café Muster, Formen, Bewegung. Richtungen und Richtungswechsel Spiegel- und Doppelspiegelbilder, Lichtreflexe Fallstricke Körperhaltung Kinder Präsentieren von Gegensätzen Personen von hinten Alte Menschen Zwei Bilder in einem Respekt Abfotografieren von Kunstwerken Urlaubsbilder Bildjournalismus, Pressefotos

Was ist Straßenfotografie?

Sicherlich benötigen wir keine weiteren Erklärungen über die sogenannte Straßenfotografie, schließlich ist das Internet voll davon. Wer Definitionen sucht, Erklärungen, Erläuterungen, der wird sie finden. Vielleicht wird er enttäuscht sein, wenn er etwas mehr sucht. Er könnte alternative Sichtweisen suchen, eine Abkehr vom Bekannten, Etablierten und Gewohnten.            
Denn die immer sehr ähnlichen Andeutungen, Beschreibungen und Grundannahmen begleiten uns schon so lange. Es geht um das Erleben von Spontanität in der Fotografie, es geht um das sichtbar machen von besonderen Erscheinungen im Alltäglichen, dem Zauber des Augenblicks, des ungeplanten usw. Es wird auch häufig beschrieben, wie diese Art zu fotografieren auf den Fotografen wirkt, was ihm daran gefällt, wie es ihn motiviert immer wieder zum Fotografieren aufzubrechen, seine Spontanität, usw.            
Ich schreibe in den folgenden Abschnitten viel über das Thema, so dass nach und nach ein Begriff entsteht. Ganz exakt fassen muss man ihn dann gar nicht, und ein wirklich neuer Begriff ist es auch nicht. Eher ein Begriff, der alles bereits bekannte einschließt, nochmals erläutert, betrachtet, und erneut begreifbar macht.            
Welcher Gebrauch von diesem Begriff dann gemacht werden kann, wird sich zeigen. Aber es schien mir, als wünschten sich einige Fotografen eine Art Gedankenstütze, die hilft, die eigene Straßenfotografiererei zu beschreiben.            
Ich sehe und lese, dass der Begriff Straßenfotografie oft für eine eher profane Fotografie verwendet wird, für Amateurfotografie, ohne großen künstlerischen Anspruch. Denn die ambitionierte Straßenfotografie ist heute ein Hobby.            
Aber wer auch einen künstlerischen Anspruch in seinen Straßenfotos verwirklichen will, wird sich seinen eigenen Begriff schaffen, und weiterhin an anderen Sichtweisen auf die Straßenfotografie, die berühmte "street photography" interessiert sein.             
Zur Zeit scheint mir die Straßenfotografie ein Schattendasein zu führen. Damit meine ich Straßenfotografie, die als Haupterwerb betrieben wird. Oder andersherum: es gibt viele Fotografen die selbstverständlich Straßenfotografie zusätzlich im Portfolio haben, zusätzlich zu irgendeiner journalistischen oder künstlerischen Tätigkeit. Ich sehe auch viele Künstler, die sich zusätzlich zu ihrer Malerei oder Bildhauerei gelegentlich der Straßenfotografie widmen. Und es gibt die vielen Hobbyisten. Die am meisten enthusiastischen dieser ganzen Teilnehmer, bilden die kleine Straßenfotografie-Szene die heute sichtbar ist.            
Inwieweit die Neuordnung dieser Welt mit dem Aufkommen der Handyfotos und Instagram, usw. zusammenhängt, ist mir nicht klar. Beides fand zumindest zeitgleich statt. Klar ist aber, dass sich das Geschehen ins Netz verlagert hat. Und nun ist es frei zugänglich für jedermann, so dass es kaum notwendig ist, dass eine spezielle Gruppe von Fotografen die Welt, also die Zeitungen, Bücher und Ausstellungen, mit ihrer Sicht auf die Straßen-, Stadt- und Kulturszene beliefert. Die Masse der Menschen, heutzutage flächendeckend mit Kameras ausgestattet, kann das eigentlich besser, sozusagen durch Schwarmintelligenz.            
Die Frage nach Aussagen über jene Straßen-, Stadt- und Kulturszene, beantwortet diese Masse mit ihren Bildern aber nur unzureichend. Zum Beispiel die Frage "Was passiert in Zeit, Stadt und Gesellschaft?".            
Diese Fragen werden auch gar nicht nachdrücklich gestellt, wie ich finde, und daher sehe ich einen Platz für eine Straßenfotografie, die Fragen stellen, und Fragen beantworten will. Vielleicht muss sie von der riesigen Themenvielfalt aber wieder ein wenig abrücken, und sich stärker auf konkrete Fragestellungen fokussieren.            
In der Welt von Instagram und Konsorten haben wir ja eine "Alles-Fotografie", die im Prinzip die ganze Welt zeigt. In dieser allumfassenden Kategorie ist die Straßenfotografie mit aufgegangen.            
Das Thema Straßenfotografie als konkrete Nische für eine bestimmte Art der Beobachtung der Welt, wurde dadurch wieder frei, und irgendwann von der relativ kleinen Szene aufgegriffen, die nun unter diesem Label fotografiert und auch versucht sich zu vermarkten. Diese Beobachtung mache ich zumindest in Deutschland, wo ich hauptsächlich "beobachte".            
Ich bin nicht ganz zufrieden mit der Entwicklung, denn mit der Bemächtigung über den Begriff Straßenfotografie wird auch viel Ungutes getrieben. Unzählige langweilige, belanglose und sogar schlechte Bilder werden nun zur Straßenfotografie erklärt. Aber Hobbyfotografie nun einfach mit Straßenfotografie gleichzusetzen, sollte nicht das Ende der Entwicklung sein.            
Der Grund für diesen Stand der Dinge ist nicht schwer zu finden: es macht Spaß sich unter dem immer noch abenteuerlichen Image des Reporters nach draußen zu begeben und zu fotografieren. Mit der Verwendung des Begriffs "street photography"/ Straßenfotografie lässt sich dabei noch die ganze Tätigkeit als kreatives Schaffen in der urbanen Kulturszene verkaufen. Was vielen Protagonisten und ihren Werken aber fehlt, ist ein sichtbares Bewusstsein über die Entstehung, die Ästhetik, und vor allem dem Sinn des Genres, das ja bekanntermaßen vor sehr langer Zeit seine Existenz begann. Ich erwarte, dass jemand ein Bewusstsein über seine Tätigkeit entwickelt, und ich dieses auch erkennen kann.            

In der "offiziellen" Welt der Straßenfotografie, wie sie in Büchern und Bildbänden zu finden ist, bleiben wir dann auch einen Augenblick.            
Da Kunst ja Provokation ist, würde ich eingangs etwas provokatives bemerken. Und der Umgang mit einem Genre, dass auf seine Entdeckung, bzw. Wiederentdeckung, wartet, sollte zu Beginn auch provokativ sein, sollte Bewährtes in Frage stellen.            

"Henri Cartier-Bresson war kein Straßenfotograf. Henri Cartier-Bresson war Fotograf."            

Die Fotoreporter der großen Zeit verstanden sich nicht als Straßenfotografen. Sie waren Reporter. Ein Straßenfotograf war etwas anderes:

 

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Dieses Bild ist ein Straßenfoto. Der Fotograf war ein Straßenfotograf. Die Straßenfotografen standen auf dem Bürgersteig, machten Bilder von vorbei gehenden Personen, um ihnen diese dann zum Kauf anzubieten. Man nannte sie die Straßenfotografen. So einfach ist das.            
Ich habe mehrere Bilder von Verwandten aus dem Nachkriegs-Paris, die so entstanden sind.            
Diese Erklärung ist provokativ, denn sie widerspricht den gängigen Klischees, die heutzutage den Diskurs über die Straßenfotografie bestimmen. Denn diese machen aus dem Straßenfotografen einen Helden, einen Beobachter mit einem besonderem Gespür für schwer zu erkennende Dinge, die dem gewöhnlichen Betrachter im vorbeilaufen verborgen bleiben.            
Aber in den Werken, die heutzutage veröffentlicht werden, sehe ich das zu häufig nicht.            
Der Kritik an einzelnen Bildern möchte ich mich aber gar nicht widmen. Ich würde mich im folgenden lieber dem eigenen Zugang widmen, den jeder sich zur Straßenfotografie schaffen kann. Denn der eigene Zugang ist ja am Ende das, womit man arbeitet.            

Das moderne Verständnis der Straßenfotografie unterscheidet zwischen dem soeben genannten Broterwerb eines Fotografen und einer Kunstform. Das Label ist, auch in der deutschen Sprache: "street photography".            

Ein weiteres traditionelles Thema können wir aber noch vorab anschneiden. Es landet fast immer am Anfang der Workshops, Tutorials und Artikelserien. Es ist das Thema der technischen Ausstattung.             
 


Die Technik und die Zeit

Was hat die Technik mit der Zeit zu tun? Interessiert die Historie der Fotografie bei der Auswahl meiner Kamera? Benutze ich geeignete Kameras für meine Straßenfotografie? Diese Fragen enden in der einen Grundfrage, die oft behandelt wird: kommt es auf die Kamera an?            
Hier sind schon viele Antworten gegeben worden.            
Und auch ich meine, ja, es kommt auf die Kamera an. Allerdings nicht in dem Sinne, dass die eine oder andere Kamera für die Straßenfotografie besser geeignet wäre, als eine weitere. Es haben aber verschiedene Kameras unterschiedliche Möglichkeiten und Einschränkungen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Um diese kennenzulernen genügt es einfach, die Kamera, oder die Objektive, gelegentlich zu wechseln.            
Alle Betrachtungen in diesem Abschnitt lassen am Ende sowieso nur den Schluss zu, dass fast jede Kamera für die Straßenfotografie gut geeignet ist. So viele schöne, gute, auch berühmte oder legendäre Street-Fotos, wurden mit unterschiedlichstem Equipment hergestellt, so dass sich zumindest aus dieser Sicht kein Schluss auf eine besondere Art Kamerasystem anbietet. Es werden zwar oft Empfehlungen gemacht, welche Art Kamera aus welchen Gründen für die Straßenfotografie gut geeignet sei, aber letzlich halten alle diese Empfehlungen den Erfahrungen aus der Geschichte der Fotografie nicht stand.            
Es gibt schlaue Kommentare, die man immer wieder in Fotoforen liest. Z.B:            

"Die beste Kamera ist die Kamera, die du dabeihast".            

Das ist richtig, aber nur eingeschränkt, denn es sagt ja doch nichts darüber aus, welche Kamera man dabei hat. Aber es ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass es mit jeder Kamera möglich ist, herausragende Straßenfotos zu machen.            
Ein anderer Spruch aus der Amateurfotografie ist ein weiterer Hinweis darauf:            

"Der Fotograf macht das Bild".            

Dem muss ich etwas hinzufügen: was viel seltener erwähnt wird ist die Bedeutung der Entwicklung im Labor oder am Computer. Und ich finde das sehr seltsam, dass dem so wenig Erwähnung zuteil wird. So wie ich es oben gerade sagte: "So viele schöne, gute, auch berühmte oder legendäre Street-Fotos, wurden mit unterschiedlichstem Equipment hergestellt". Aber das bezieht sich ja nicht nur auf die verwendete Kamera. Für die Fotografen gehörte die Dunkelkammer immer zum "Equipment" dazu. Genauer gesagt, es war nicht die Dunkelkammer, sondern das Papier, die Filme und die ganzen Tricks, die es bei der Entstehung, der Entwicklung eines Bildes anzuwenden gab.            
Und alles das ist ja nicht verschwunden. Wir entwickeln die Bilder ja nun auch am Computer, wobei wir den Einfluss von Kamerasystem und Objektiv sogar gelegentlich bis zur Bedeutungslosigkeit marginalisieren, zumindest relativieren.            
Es könnte sein, dass diesem Teil heutzutage nicht mehr die angemessene Beachtung zukommt. Vielleicht ist das einfach eine notwendige Folge des technischen, in diesem Fall digitalen, Fortschritts. Außerdem könnte es eine Rolle spielen, dass ein solch langwieriger Prozess, der entsteht, wenn man die Bildentwicklung in ihn mit einbezieht, dem Gedanken der spontanen Straßenfotografie zuwiderläuft. Und da man ihn, im Gegensatz zur analogen Ära, heute weglassen kann, wenn man möchte, passiert es auch. Cartier-Bresson konnte das nicht.            
"Der Fotograf macht das Bild" bezieht also die Entwicklung und Nachbearbeitung des Bildes mit ein, und reduziert die Bedeutung des benutzten Kamerasystems noch weiter, als der Spruch sowieso schon sagen wollte. Er wollte nämlich lediglich sagen, das "Können" entscheidend sei.            

Bild 125, z.B, ist ein Straßenfoto. Ich habe es selbst 1993 in Venedig gemacht. Es ist zwar nicht herausragend, aber es ist ein Straßenfoto, dass übliche Straßenfoto-Elemente enthält.            
 

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Venedig ist einer dieser legendären Orte, an denen es sich gut Straßenfotos machen lässt. Die Aura dieser Orte, Paris, Istanbul, New York, kommt Fotografen sehr entgegen. Hier kann man fotografieren und hat immer schöne Fotos. Der Ort ist als Kulisse eben so gut, dass man nicht viel falsch machen kann, denn die gute Kulisse lenkt gegebenenfalls von den Schwächen eines Bildes ab. Außerdem schwingt hier immer der Glanz der großen Bilder aus der Geschichte der Fotografie mit, die man im Hinterkopf hat.            
Dem Fotografen muss es lediglich gelingen kein Touristenfoto zu machen. Das wiederum ist in Venedig gar nicht so einfach.            

Bild 125 enthält ausreichend traditionelle Elemente der Straßenfotografie: Arbeitsleben, Klischees von Armut und Verfall, Einfachheit des Lebens, eine sauber getroffene Person, die derartige Symbole auf sich vereint und sie trägt, in diesem Fall sogar als Kiste auf der Schulter. Das Bild enthält sogar etwas widersprüchliches, zu diesem Thema generell kommen wir später noch ausführlich, nämlich einen Schriftzug mit dem Wort "MILANO" in Venedig. Außerdem das Graffiti mit dem spanischen Wort "Olé". Man könnte hier bereits nach originellen Assoziationen suchen. Die beiden Schriftzüge sind auch ein Beleg dafür, dass das Bild nicht aus den dreißiger Jahren stammt. Die linke Bildhälfte alleine könnte diesen Eindruck nämlich erwecken.            
Nun ja, das Bild würde viele Straßenfotografen zufriedenstellen. Es ist inhaltlich in Ordnung, und auch technisch, qualitativ nicht zu beanstanden. Scharf genug, nicht perfekt, ausreichend belichtet, auch nicht perfekt. Der geliebte Vintage-Style ist auch vorhanden, in diesem Fall unten links im Bild, verursacht durch einen Mangel am Kameragehäuse. Heutzutage fügt man diese "Schäden" per Filter ein.            

Aber die Kamera, mit der das Venedig-Bild gemacht wurde, ist technisch überhaupt nicht auf dem Niveau des Ergebnisses.            
Diese Kamera habe ich von meinem Vater geerbt, der sie Anfang der 50er Jahre, vielleicht schon Ende der 40er, in Frankreich gekauft hat.            
 

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Wie man auf dem Bild (Bild 123) sehen kann, hat sie drei Belichtungszeiten: ungefähr 1/100, ungefähr 1/25 und "T" (nach Wahl, je nach dem wie lange man den Knopf gedrückt hält). Sie hat zwei Blendeneinstellungen: "1" und "2", also groß und weniger groß. Sie benötigte Rollfilme und machte pro Rolle 8 Bilder im Format 9x6. Nach 8 Bildern musste man, in den 90er Jahren, mit den geänderten Rollfilmspulen, die nicht mehr passend für die Kamera waren, den Film wechseln. Das dauerte ungefähr 10 Minuten und war sehr kompliziert. Oft gingen die Bilder dabei kaputt. Ich könnte damit nun sagen wollen, dass nur ein Superfotograf damit Straßenfotos machen kann, aber das meine ich natürlich nicht.            
Was ich meine ist, dass Empfehlungen heutzutage darüber, welches Autofokus-System und welches Zoom-Objektiv am besten für die Straßenfotografie geeignet seien, an der Realität vorbeigehen. Auch schnelles Handling, geringe Größe und Tauglichkeit zum schnellen und unauffälligen Fotografieren, sind keine wichtigen Merkmale, wie wir noch sehen werden.            

Das Bild 122 machte meine erste Digitalkamera. Es dürfte 1996 gewesen sein. Die Auflösung war 640x480. Ein Straßenfoto aus Paris.            
 

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Und damit geht es los. Die Boyer oben ist eine leicht verbesserte Variante einer Lochkamera, und außerdem eine Billigkamera. Mein Vater hätte sie sich sonst kaum leisten können. Trotzdem war sie eine Evolution einer seit langer Zeit fortentwickelten Technik. Die Digitalkamera dagegen war zwar eine Digitalkamera, aber sie war eine der ersten Digitalkameras überhaupt, also technisch überhaupt noch nicht ausgereift. Welche ist denn nun besser?            
Das kann natürlich keiner sagen.            

Was man aber sagen kann, ist, dass das Bild aus Venedig besser ist, als das aus Paris.            
Derlei Beispiele kreuz und quer lassen sich bis heute immer und überall finden, derlei Vergleiche immer und jederzeit anstellen. Immer mit demselben Ergebnis: das eine Bild ist besser als das andere.            
Belassen wir es also dabei.            

Was weniger bedeutungslos ist, ist etwas anderes. Die gute Technik, die wir heute haben, sollte die Anforderungen an den Inhalt erhöhen. Denn früher konnte man technische Schwächen im Bild akzeptieren, da alles in analog, mit manueller Fokussierung, mit Filmentwicklung, usw, nun einmal auch schwierig und teuer war. War dann ein gutes Bild gemacht, durfte auch im Hintergrund mal ein Passant herumlaufen. Heute dagegen, mit 20 Bildern pro Sekunde, die man kostenfrei machen kann, mit Autofokus, usw, ist hohe technische Qualität keine Kunst. Umso mehr könnte man erwarten, dass dann inhaltlich die Kunst hoch ist, also gute Sachen, gute Themen gut ausdrucksvoll fotografiert werden.            
Aber auch das ist nicht der Fall. Es entstehen auch mit der modernen Technik mehr oder weniger dieselben Bilder wie früher, in denen nach wie vor auch Schwächen und Fehler akzeptiert werden, wenn denn das Hauptmotiv einigermaßen herausgestellt wird.            
Das ist sehr interessant für die Straßenfotografie, und beantwortet Fragen nach der notwendigen Technik vollumfänglich.            
Ich finde es übrigens selbstverständlich, dass das Kamerasystem, dass sich durchgesetzt hat, die Handykamera ist.            


Was ist ein Straßenbild?

Und was ist dann also ein Straßenfoto? Ist das Zeigen einer Straßenszene "street photography"?

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Hier auf Bild 1 sehen wir Straßenfotografie in Reinform. Es ist eine Straße, es ist eine Straßenszene. Und es ist frei von allen Straßenszenen-Klischees, enthält aber trotzdem viel essentielles der Straßenfotografie: Straße, Alltagsszene, Arbeitswelt, Leben, Fahrradfahrer, Autos, Werbetafeln, Bar oder Restaurant mit Menschen davor, auf dem zentralen Platz einer kleinen Ortschaft.            
Lieber würde man diese Bestandteile auf einem Bild aus Rom sehen, mit Tauben, Kellner, Espressotasse und einer schicken Frau mit 60er-Jahre-Frisur, die ihren Mann küsst, welcher eine Zigarette in der Hand hält. Wir hätten dann aber ein Straßenfoto-Klischee-Bild.            
Dieses hier dagegen zeigt dieselben Inhalte, nur an einem anderen Ort, im Irgendwo.            
Schnell merkt man, dass das nicht genügt. Aber das ist seltsam. Denn schon lange rühmt sich die Straßenfotografie für ihren Umgang mit dem "alltäglichen". Und trotzdem: werden wir, so wie hier, mit dem rein alltäglichen konfrontiert, sind wir auch nicht zufrieden.            
Unseren Sehgewohnheiten und Erwartungen im Kontext "Straßenfotografie" wird hier auf Bild 1 nicht entsprochen. Irritiert bleiben wir zurück. Aber warum?            

Wir benötigen einen kurzen Blick in die Geschichte der Themen.

 

Klassisches "Street": Jahrmarkt, Gaukler, Menschen, Café

Es sind die Standards: Jahrmärkte, Straßenmusikanten, Gaukler, Cafés. Sie tauchen immer wieder in der Straßenfotografie auf, werden auch heute noch fotografiert. Die Erscheinungsformen haben sich verändert, natürlich. Aber es gibt sie ja noch, die Jahrmärkte, Gaukler und Cafés - in ihrem derzeitigen Erscheinungsbild und ihrem derzeitigen Anteil am Stadtbild der heutigen Gesellschaften.            
Aber auch die Gaukler und Cafés, wie sie auf den früheren Straßenfotos zu finden sind, sind noch da: als ungenannter, nicht abgebildeter Bestandteil vieler aktueller Bilder. Sie sind in diesen Bildern als Vorbild enthalten. Der Ruf vergangener Zeiten lebt bei der Straßenfotografie immer mit, und damit auch deren Faszination. Es ist schwer, sie auszuschalten.            
Die klassischen Bestandteile, Jahrmarkt, Cafés, die Straße überhaupt, sind jahrhundertealte Symbole für das Zusammenkommen von Menschen. Sowohl in der Stadt "von damals", als auch auf dem Land.            
Hier taucht der erste Widerspruch schon auf. Denn Straßenfotografie wird, ich sagte es schon, heute oft mit der Idee verbunden, alltägliches herauszustellen, scheinbar alltägliches abzubilden und dabei schönes, interessantes und faszinierendes offenzulegen.            
Der Jahrmarkt, z.B, aber ist gar nicht alltäglich. Er ist, im Gegenteil, immer etwas besonderes gewesen. Ein herausragendes Ereignis im Jahresablauf der Bevölkerung. Die Fotografie findet darin etwas außergewöhnliches - bis heute.            
Das Café, die Bar, verbindet beides: Alltag, und aus dem Alltag herausragendes. Von außen betrachtet ist das Straßencafé alltäglich, denn es ist immer da. Man kann dort den Alltag fotografieren. Jeden Tag sitzen im Café die Gäste. Jeden Tag schwingen die Kellner ihr Tablett durch die Tische und Stühle, servieren ihre Kaffeetassen und ihre Rotweingläser.            
Die Gäste, die im Café sitzen, befinden sich allerdings in einer Pause von ihrem Alltag. Auch das ist ein Widerspruch. Aber dieser Widerspruch trägt zur Lebendigkeit bei.            
Denn andere Gäste befinden sich im Café, gerade weil sie kein alltägliches Leben führen. Weil sie Nachtschwärmer sind, Kriminelle, Prostituierte, Künstler. Für sie ist es ihr Alltag, den sie gerade leben. Gerade auf sie aber stürzt sich der Straßenfotograf. Denn sie machen das alltägliche interessant, auf plakative Art und Weise allerdings. Nicht-alltägliches kontrastiert alltägliches, und umgekehrt.            
Es gibt aber auch Fotografen, die tatsächlich nur das alltägliche abbilden wollen. Und sie sind in der Lage, auch ohne offensichtliche Kontraste, sehr viel im alltäglichen zu sehen - und zu zeigen.            

Bild 128 zeigt etwas alltägliches. Es enthält tatsächlich nichts außergewöhnliches, nichts plakatives. Keine Prostituierten, keine Nachtschwärmer, keine Kriminellen.            
 

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Und wenn doch? Drei Personen würden ausreichen, um Prostituierte, Nachtschwärmer und Kriminelle abzubilden. Man kann ja nicht wissen, wer die Leute dort sind. Sie sehen halt nicht so aus. Vielleicht findet der Fotograf sein Bild gerade deswegen interessant. Die Bilder mit den offensichtlichen Prostituierten, Nachtschwärmern und Kriminellen lassen ja weniger Fragen offen. Bei diesem hier dagegen, stellt sich schon die Frage, was damit eigentlich abgebildet werden soll. Eine Pausen-Szene? Frühstück? Wir sehen ja gar nicht die Uhrzeit. Es ist auch nicht erkennbar, warum der Fotograf die Café-Szene aus der Distanz, aus dem verborgenen aufgenommen hat. Zufall? Angst vor dem gesehen werden?            
Verfiel der Fotograf lediglich dem Irrtum, ein Bild eines Straßencafés in einer französischen Stadt, sei per se immer ein tolles Street-Motiv?            
Ein weiteres Detail: das "Cafe des Halles"! Wo sind denn die "Halles"? Steht der Fotograf möglicherweise in diesen Hallen, und das Café ist nur ein Detail des Bildmotivs, der Hallen? Die legendären Pariser Markthallen waren schon immer, solange es sie gab, die Kulisse schlechthin für die klassischen Milieustudien der Fotografie.            

Und schon ist es gefallen, das Zauberwort. Straßenfotografen verwechseln sehr schnell ein Bild aus dem Alltagskontext direkt mit einer Milieustudie. Die Rolle des Beobachters macht einen Teil der Faszination des Genres aus. Besonders traditionelle "einfache Arbeit", die jedem Bildungsgrad offen steht, steht bei Fotografen hoch im Kurs. Bilder von Kellnerinnen, Varietétänzerinnen, Straßenfegern, Polizisten und Zeitungsjungen, von den Prostituierten und Kriminellen ganz zu schweigen, spuken in unserem Kopf als historische Vorbilder aus der Zeit, in der die Fotografie auf der Straße möglich wurde.            
Auch heute erleben wir im Café, auf dem Jahr- und Wochenmarkt, ein Zusammentreffen von Arbeitswelt mit anderen Welten, also alltäglichem mit nicht-alltäglichem.            
Diese Themen füllen die Bildbände der Fotokunst mit den Bildern der letzten 130 Jahre.            
Als Fotograf soll man sich heutzutage bewusst sein, dass diese ganze Historie das Fotografieren in der heutigen Zeit beeinflusst. Die Frage ist, WIE der historische Hintergrund, aufgegriffen, zitiert oder interpretiert wird, wenn er denn sowie fast immer vorhanden ist. Der Fotograf, der den historischen Hintergrund zwar in seinem Bild hat, ihn aber einfach ignoriert, lässt eine Chance liegen. Aber nicht nur das. Er setzt sich auch dem Verdacht aus, den historischen Hintergrund gar nicht zu begreifen.            

Bild 132 ist ein solches Milieu-Bild in einer zeitgemäßen Erscheinung. Hier scheint sich alltägliches mit nicht-alltäglichem zu verbinden. Wobei "verbinden" schon schwierig ausgedrückt ist, schließlich haben die beiden Gruppen kaum etwas miteinander zu tun. Wir könnten exakter sagen, alltägliches und nicht-alltägliches werden in einem Bild gezeigt.            
 

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Auf bildsprachlich aufgezeigte Widersprüche und Gegensätze kommen wir später noch ausführlich zu sprechen. Hier in diesem Bild haben wir sie. Das Nicht-Vorhandensein von Obstkisten und Marktschreiern macht die Differenzierung von Arbeits- und anderem Kontext schwierig. Aber ganz offensichtlich sind die Fahrer der beiden Autos bei ihrer Arbeit. Bei den beiden Frauen ist es nicht so offensichtlich. Das ganze Frankfurter Businessumfeld, sowie die Kleidung und Smartphonetipperei der beiden, könnte einen Businesskontext zumindest andeuten, muss es aber nicht. Jedenfalls interessiert die beiden Frauen das Polizeispektakel überhaupt nicht, zumindest nicht in dem Augenblick, in dem das Bild aufgenommen wurde.            
Angenommen, die beiden stillen unseren Klischeehunger und arbeiten wirklich in einem großen Dienstleistungskonzern, dann sind sie im Prinzip die Marktfrauen und Fischverkäuferinnen der heutigen Zeit. Ihre historischen Vorbilder mögen vor hundert Jahren sogar an derselben Stelle gestanden haben.            
Aber wollen wir denn nur die klassischen Bestandteile der Straßenfotografie in eine neue Zeit übersetzen?            
Das kann uns doch nicht genügen. Wir möchten ja auch über Inhalte reden, die wir mit unseren Bildern transportieren wollen. Dummerweise sind auch die zum Teil dieselben geblieben.            
Aber trotzdem, Kunst schaffen, die nichts zu sagen hat, ist nicht erstrebenswert.            

Es wird Zeit, darüber nachzudenken: Wir möchten neue Aussagen über Zeit, Zeitgeist und Gesellschaft machen. Und dafür genügt es nicht, mit Reminiszenzen an die Ursprünge der Straßenfotografie zu hantieren. Vorbildern aus der Vergangenheit nachzueifern, führt alleine nicht zum Erfolg. Schließlich findet die Gegenwart jetzt statt.            
Selbstverständlich dürfen archaische, romantische Vorstellungen weiterhin in die zeitgenössische Straßenfotografie mit einfließen. Das Spiel mit den genannte Vorbildern und Reminiszenzen gehört dazu. Und dass dieses äußerst lebendig sind, beweist der Markt für Filmsimulationen und Knopfdruck-Filter, die aus Fotos Bilder im Vintage-Style machen. Dieser Markt ist so groß und bedeutend, dass man nicht um die Überlegung herumkommt, was uns denn an unserer Gegenwart so  langweilt, dass ein solch großer Raum für Retro-Kultur entsteht. Wir erleben das Phänomen in der Film- und, vor allem, Musikbranche schon seit 30 Jahren. Vielleicht gibt es einfach nichts Neues mehr zu sagen.             
Wie gesagt, in der Gegenwart die Historie im Hinterkopf behalten ist die eine Sache. Aber die Historie kopieren, weil sie die schöneren Produkte hervorbringt, ist komisch. Die Gegenwart muss einfach genug Stoff bieten, um sich künstlerisch auszutoben. Aber wie?            
Es ist genug dazu gesagt. Fotografieren wir.

 

Street: Muster, Formen, Bewegung. Richtungen und Richtungswechsel

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Bild 037 enthält ein schönes Muster auf der Grundlage einer klassischen Zwei-Drittel-Aufteilung. Links erhält es durch den Straßenverlauf einen geschwungenen Bogen, angeschnitten durch die schräg durch ihn verlaufenden Schlieren der Frontscheibe des Autos, in dem wir sitzen, und in der Überbelichtung durch die Sonne. Die zwei-drittel Seite rechts ist dunkel und unbeweglich. Der hell-dunkel-Verlauf horizontal von links nach rechts wird unterstützt durch die beschriebene Geometrie. Die geschwungene Seite führt durch den Straßenbogen nach rechts in die starre Seite, ebenso wie der hell-dunkel-Verlauf. Die Schlieren verhalten sich genauso, nur von oben links nach unten rechts, genau gekreuzt mit der Straße. Am Ende gehen sie in den Gartenzaun, und damit endgültig in die rechte Bildhälfte über.            
Die Beweglichkeit im Bild wäre noch besser wiedergegeben, wenn die Autos, die auf der linken Seite an der Ampel stehen, fahren würden. Aber wir sehen, die Ampeln zeigen rot. Für den Bewegungseindruck in dieser Hinsicht muss dann das fahrende Auto ganz links am Bildrand genügen. Die rote Ampel ist so gesehen ein Bruch im beschriebenen "Gesamtkonstrukt" und beweist, dass es sich nicht um ein durch-konzeptioniertes Foto handelt, sondern um eine gelungene Zufallsaufnahme, die nicht perfekt ist. Am linken Bildrand ist all das aber sowieso nur noch sehr schwer zu erkennen.            
Die soeben beschriebene Bildaussage dieses Fotos wurde erst in der Nachbearbeitung aufgegriffen und verstärkt. Das geschieht durch die Betonung der hell-dunkel-Teile. Man kann sogar sagen, dass diese Bildaussage dadurch überhaupt erst erzeugt wurde. Auch die schwarz-weiß-Konvertierung erfolgte zu dem Zweck, diesen Verlauf weiter zu verstärken. Das Bild ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein interessantes Bild gelegentlich sehr weit von der Original-Fotografie entfernt sein kann. Es entsteht nur, weil irgendwie und irgendwann das vorhandene Potential, das in dem Bild steckt, gesehen und herausgearbeitet wird.            

Um das besser erkennen zu können, lohnt ein Blick auf die Originalaufnahme. Die beschriebenen Bildeindrücke sind hier noch gar nicht vorhanden. Das Original wird von der blauen Farbe dominiert, im Kontrast zur rosa Straße mit Tankstelle. Das Original hat keinen Links-Rechts-Verlauf mit akzentuiertem Eingang auf der linken Seite. Dieser wird sowie erst durch den Beschnitt ins Querformat ermöglicht. Die Kurvenelemente, die auf der Scheibe entstanden, sind noch nicht so stark betont, dass sie als überhaupt als Kurvenelemente wirken. Die Ausgewogenheit und Ordnung des Inhalts machen auf dem schwarz-weiss-Bild erst ein Bild, auf der Originalaufnahme fehlt diese Klarheit noch völlig.            
 

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Zu diesem Potential, welches hier im Endergebnis freigelegt wurde, gehört aber auch die Reminiszenz an die traditionelle Straßenfotografie. Denn was das schwarz-weiße Endprodukt trotz allem NICHT enthält, ist irgendein künstlerischer Anspruch, der über die reine Bildästhetik hinausgeht. Damit hat das Bild durchaus den Charakter, den die ursprüngliche Straßenfotografie gerne erzeugte. Sie zeigte gewöhnliche Alltagsszenen, aber verpackte sie in eine neue, oder zumindest anspruchsvolle Bildästhetik.            
Dieses Bild zeigt sehr deutlich eben nur die Tankstelle. Für eine Überhöhung ins vermeintlich gesellschaftskritische, o.ä, ist hier keinerlei Anknüpfpunkt zu sehen, das ist offensichtlich. Einschränkend muss man zwar festhalten, dass das Bild ja eine Ampel enthält, und Ampeln sind durchaus ein überbenutztes klassisches bildsprachliches Element. In diesem Bild aber drängt sich die derartige Verwendung nicht auf, man kann sie vernachlässigen. Die schwarz-weiß-Konvertierung "schubst" den Betrachter zusätzlich in den historischen straßenfotografischen Kontext, genauso wie die nur mäßig vorhandene technische Bildqualität.            
Man sollte aber den schwarz-weiß-, oder andere Vintage-Effekte, nicht missbrauchen, um inhaltsleere Bilder auf bedeutungsvoll zu trimmen.            

Jetzt haben wir immerhin ein Bild gesehen, das ein Motiv enthält, nämlich eine Tankstelle. Es ist möglich, dass man ein Bild inhaltlich sogar ganz "leerlaufen" lässt, so dass es eigentlich gar nichts mehr enthält. Bei Straßenfotos passiert das meistens unbeabsichtigt.            
In Bild 065 finden sich auch wieder einige Kurvenelemente. Dieses Mal werden sie aber nicht durch einen Lichteffekt erzeugt. Sie sind bereits vorhanden, als Geländer neben Straße und Gehweg. Formenspiele jeglicher Art faszinieren die Fotografen, und hier findet sich eine rudimentäre Variante davon.            
 

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Der Bus ist in diesem Bild kein besonders interessantes Motiv. Sollte er es das Motiv dieses Bildes sein, wäre es ein einfaches Kitsch-Bild, dass eine städtische Nachtszene zeigen soll. Das eigentliche Motiv auf diesem Bild sind aber die geschwungenen Linien.            
Bei Spielereien mit solchen vermeintlichen "Richtungen", Kurven, Straßen, Autobahnkreuzen, sucht man als Betrachter oft nach dem "Bruch" im Bild, also Dingen, die ins surreale abgleiten, eine Straße, die nicht weiterführt, ein Fahrzeug, das ins Leere fährt, o.ä. So wie zum Beispiel die Treppenanlage auf Bild 135, die auf den ersten Blick kaum irgendwo hinführt. Oder der Zebrastreifen auf Bild 134, der an der Mauer endet.            
Solche Anomalien erfreuen uns. Ragen sie nicht scheinbar aus dem alltäglichen heraus?            
 

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Ist aber nichts derartiges vorhanden, so wie auf Bild 065 oben, bei den geschwungenen Geländern, kann das Bild enttäuschen und es bleibt nur ein Abbild einer echten Straßenszene, das ein wenig hübsch aufbereitet ist. Ein Inhalt ist aber nicht zu finden. Bei diesem Bild 065 scheint das der Fall zu sein. Man bleibt ein wenig ratlos zurück. Ein geschwungener Verlauf irgendwelcher Linien ist nett, genügt aber nicht wirklich für ein Aufhorchen beim Betrachter.            

Auch Bild 061 hat das Element "Richtung" eingefangen. Das Bild zeigt einen Pfeil, bzw. mehrere: den einen großen im Gewand der Brücke/ Straßenüberführung, der vom linken Bildrand zum rechten Bildrand weist. Der nächste, unten auf dem Parkplatzschild, weist nach links oben und korrespondiert in dieser Richtung mit dem Lichtschein direkt links als Parallele neben sich. Dieser Lichtschein wiederum bildet selbst eine Pfeilspitze nach rechts, so wie auch der große Schatten rechts neben ihm, der eine schwarze Pfeilspitze nach rechts bildet. Die beiden anderen Pfeile sind rechts unten zu sehen, ganz klein. Sie liegen direkt übereinander und weisen nach rechts und nach oben.            
 

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Nun bleibt es ein Geheimnis, ob der Straßenfotograf diese Pfeile erst entdeckt und dann fotografiert hat, oder ob er sie erst später im fertigen Bild gesehen hat. Im letzteren Fall wäre die Frage, warum er das Bild denn überhaupt an der Stelle aufgenommen hat.            
Pfeile gehören zu den einfachen bildsprachlichen Elementen und werden daher auch über-angewendet. Man nimmt sie selbstredend, um auf etwas zu weisen, meistens um Widersprüche im Stadtbild oder der "Gesellschaft" aufzugreifen oder um etwas zu verdeutlichen, sehr gerne bei Pressefotos, oder nennen wir sie bild-journalistische Fotos.            
Im Bild 061 weisen die Pfeile glücklicherweise auf nichts, und das erspart dem Betrachter diese platte Symbolik. Es bleibt ein nettes ästhetisches Spielchen mit dem interessanten Muster der Linienverläufe auf der Brücke: im unteren Teil der Trasse durchlaufend, im oberen Teil im unterbrochenen, versetzten Verlauf, aber vor allem, von links nach rechts schmaler werdend. Die Brücke wäre ansonsten auch kein Pfeil.            
Durch die Ausblendung des Drumherums ins unterbelichtete (unten) und überbelichtete, also weiße (oben und rechts), wird die Brücke hervorgehoben und als das eigentliche Motiv des Bilds herausgestellt.            
Auch hier würde ein Blick auf die Originalaufnahme sicherlich zeigen, dass die Elemente erst durch die Überbetonung von Hell und Dunkel sichtbar geworden sind. Den Blick auf das Original habe ich beim Tankstellenbild mit hineingenommen, wollte das aber nun nicht bei allen weiteren Bildern tun.            

Bei den Ampeln und Pfeilen wollte ich kurz bleiben. Sie waren ja Bestandteil in den beiden besprochenen Bildern. Sie wurden in beiden Fällen, Tankstellenbild und Pfeile-Bild, nicht als Symbole verwendet. Aber was hat es weiter damit auf sich?            
Die Auseinandersetzung mit den Widersprüchlichkeiten im Alltagsleben benötigt eigentlich keinen Gebrauch von Metaphern und Symbolen, um auf sie hinzuweisen. Sie sind sowieso allgegenwärtig. Der Hinweis eines Fotografen darauf, dass er diese Widersprüchlichkeiten selbst nun auch bemerkt hat, und darauf brennt, sie der Öffentlichkeit aufzuzeigen, zeugt eher von einem späten Erwachen als Beobachter.            
Den immer wieder veröffentlichten Bildern von überquellenden Mülltonnen, aufgebrochenem Straßenpflaster und anderen Missständen, fehlen vor allem die aufgezeigten Lösungsansätze. Sie reduzieren sich dann auf simple Anklagen, gerichtet auf andere, deren Zuständigkeit für die Missstände aufgezeigt wird. Da muss ein Bild dann schon ästhetisch sehr anspruchsvoll sein, damit man über die simplen Aussagen hinwegsehen kann. (Wir kommen auch im vierten Teil nochmals darauf.)            
 

H.Schiele: "Street"



Das Bild 110 mit der virtuellen Busspur spricht für sich selbst. Denn es handelt sich um ein lustiges Schild, mit dem ein wenig angekratzt wird, dass Bürokratie unseren Alltag, in dem Fall den Verkehr, nicht mehr vernünftig visuell darstellen kann. Dafür sind in unserer Zivilisation zu viele Widersprüche vorhanden.            
Trotzdem ist es noch keine Symbolik mit der Holzhammermethode, wie z.B. bei einem Politiker, der mit einem Stoppschild, oder einer roten Ampel, im Bild ist.            
Die Widersprüchlichkeit des bürokratischen Staatswesens wird sehr oft durch Schilderwälder dargestellt. Das Bild 110 erfüllt diese Funktion alleine wegen seines Inhalts, es benötigt keinen weiteren Kontext, um seine Aussage zu verdeutlichen. Aber auch hier zieht sich der Fotograf auf seine Rolle als Beobachter zurück. Er weist damit die Verantwortung für den bürokratischen Umstand anderen zu, der Gesellschaft, den Politikern, den Stadt- und Kreisräten, den Bürgern, die die Missstände vermeintlich nicht sehen.             
Aber ist denn der Fotograf wirklich nur ein genialer Analyst, ein unerschrockener Beobachter? Hat er nicht auch bei der letzten Kommunalwahl irgendeine verantwortliche Partei gewählt? Gäbe es nicht eine Bürgerinitiative der er beitreten könnte?            
Man merkt, anderen den Spiegel vorzuhalten ist eine schwierige und zweischneidige  Sache. Oft hält man ihn sich, ohne es zu bemerken, selber vor.             

Einen fotografischen Ausweg aus dem Dilemma sieht man auf Bild 111. Hier ist der Gegensatz von Schild, Inhalt und Realität noch einfacher zu sehen, da er nicht zwischen den Zeilen versteckt ist. Da das Bild sehr konkret ist, fehlt ihm die unterschwellige Anklage, und das ist ein sehr wichtiger Unterschied.            
Eine tiefer liegende Bedeutung ist in Bild 111 nicht zu erwarten, da bereits sichtbar ist, was es enthält. Das nimmt ihm die Inhaltsschwere, die ansonsten beim Betrachten belasten kann.            
Davon abgesehen bekommt das Bild durch die Schräglage des Radfahrers ein wenig "speed", und durch seine etwas unsichere Haltung auch eine gewisse Komik. Trotzdem also jede Menge Missstände im Bild vorhanden sind, der Stadtrand, die häßliche Straße, der graue Himmel, das uralte Geländer, der Mann, der die Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens verletzt, bleibt es ein leichtes Bild. Es überhebt sich nicht durch vermeintliche Gesellschaftskritik oder bedeutungsschwangere Aussagen.             
 

H.Schiele: "Street"



Ein Puzzle aus Formen, Linien und auch Pfeilen zeigt Bild 062. Das ist eine ganz interessante Idee, allerdings fehlt dem Bild das eigentliche Motiv. Alle Schilder, Stangen, Lampen und Flächen stehen gleichberechtigt nebeneinander, man weiß nicht worum es im Bild geht.            
 

H.Schiele: "Street"



In der Straßenfotografie gibt es große Mengen an Bildern, die aus lustigen Konstruktionen verschiedener Motive bestehen, die auf den Bildern zusammengefügt werden.            

Mit diesem Bild 062 ließe sich ein Objekt, dass eine, z.B. regionale, Bedeutung hat, einer weitergehenden Betrachtung zuführen. Gäbe es einen Zeitungsartikel, in dem die "Stationsstraße", oder das "Marktkauf"-Gebäude, Thema wären, könnte man diese betonen, herausstellen oder bewerten.            
Was Bewegung angeht, ist das Bild, trotz der enthaltenen horizontalen Richtung, statisch - ein interessanter Punkt. Trotz Stillstand und mangelnder Dynamik bleibt das Bild ein nicht uninteressantes Experiment mit dem Thema "Richtung".            
Eine Richtung entsteht durch die Leserichtung der Schriftzüge "Stationsstraße" und "Mark(tkauf)", die zusätzlich durch die gleich verlaufenden horizontalen Linien unterstützt wird. Trotzdem bleibt man im Bild gefangen, es zieht das Auge nicht nach rechts oder links. Das könnte vielleicht anders sein, würden die Linien auf einer Seite über den Bildrand hinaus aus dem Bild führen, so wie bei der oberen Linie. Die Linien unten könnten sowohl nur auf der rechten oder der linken, aber auch auf beiden Seiten aus dem Bild gehen. Dann könnte der Bewegungseindruck ein anderer sein. So wie es jetzt ist, hat man dagegen den Eindruck, vor einer Wand zu stehen, bzw. man steht ja wirklich vor einer, was ebenso einem dynamischen Bewegungseindruck zuwiderläuft.            
Wenn wieder Schlieren einer Autoscheibe vorhanden wären, oder eine sonstige Bewegungsunschärfe, würde dieses Bild viel Schwung aufnehmen. Insgesamt lernt man hier weiter die Stilelemente kennen, die sich beim gezielten Einsatz von Bewegung, Richtung und Dynamik nutzen lassen, und das, obwohl diese Stilelemente in diesem Bild eben NICHT vorhanden sind.            

Eine solche Methode sieht man auch im Bild 079. Auch dieses Bild ist fast ein Standbild. Denn viele Bilder, die den Autoverkehr zeigen, sind eigentlich Standbilder, da sich auf einem Foto ein fahrendes Auto nicht von einem stehenden Auto unterscheidet, wenn keine Bewegungsunschärfe vorhanden ist.            
Betrachten wir einen gehenden Fußgänger. Ein gehender Fußgänger sieht anders aus, als ein Fußgänger der steht, dass ist offensichtlich. Wir erkennen den Unterschied sofort an den Beinen und an der Körperhaltung.            
Beim Auto aber entsteht der Eindruck von Bewegung eher durch den Kontext und unsere Erfahrung. Wir wissen ja, wann auf der Straße Autos stehen, und wann sie fahren. Und wir können auch anhand der Umgebung oder der Beschaffenheit der Straße einschätzen, wie schnell ein Auto fährt. Auf einer Autobahn fährt es sicher schnell, obwohl es auf einem Foto oft aussieht, als ob es steht. Wir erkennen das auch im Zusammenhang mit den anderen Autos, die sich in Abhängigkeit zueinander bewegen. Auch am Aussehen des eingeschalteten Lichts erkennen wir vieles.            
In diesem Bild hier ist es ein weiteres Merkmal, das uns Klarheit verschafft: ein Auto, das sich in die Kurve neigt, fährt.            
 

H.Schiele: "Street"



Bei einem stehenden Auto ist eine Neigung ja nicht möglich. Wir haben also einen Bewegungseffekt, allerdings nicht durch Bewegungsunschärfe oder irgendwelche Schlieren, sondern dieses Mal durch die Neigung des Autos. Es ist aber deutlich anders, als z.B. das Bild 047 unten, das alleine durch Bewegungsunschärfe zum offensichtlichen Bewegungsbild wird.             
 

H.Schiele: "Street"



Aber auch in dieses Bild mischt sich unsere Erfahrung mit ein. Denn um eine einfache Bewegungsunschärfe handelt es sich auch hierbei nicht. Denn es ist nicht so, dass der Fotograf auf einer Stelle steht und der Radfahrer an ihm vorbeifährt. Das hätte gewöhnliche Bewegungsunschärfe beim Radfahrer zur Folge. Hier ist es aber so, dass auch die Mauer im Vordergrund bewegungsunscharf ist. D.h, der Fotograf fährt auch, und zwar in einer anderen Geschwindigkeit als der Radfahrer, oder ihm sogar entgegen. Führen sie beide mit derselben Geschwindigkeit nebeneinander her, wäre der Radfahrer scharf.            
Ganz beiläufig sieht man auf diesem Bild, dass bei der Fahrt die Mauer im Vordergrund bewegungsunscharf ist, aber nicht die Häuser hinten im Bild, die sehr weit weg sind. Sie sind im Gegenteil sogar scharf, genauso wie die hintere Brücke. Wir fahren an ihnen aber genauso vorbei wie an der Mauer vorne, trotzdem verhalten sie sich anders. Klar, es ist eine Binsenweisheit mit Perspektive und Entfernung, aber manchmal verliert man sie aus dem Blick. Hat man sie im Griff, kann man aber Bilder bewusst gestalten.            

Zurück zum Bild 079, dem Auto. Dieses "zeigt" eben keine Bewegung. Es suggeriert sie nur, da wir sie erkennen können, obwohl man sie nicht sieht. Es ist ein Standbild, das unauffällig, nur durch die leichte Schräglage des Autos, darauf hinweist, dass das es schnell fährt. Das ist ein sehr subtiler Effekt, und das Bild erzeugt dadurch eine gewisse Spannung.  Man kann fast das leichte Quietschen der Reifen hören. Diese Spannung wird durch den Bildaufbau unterstützt, denn das Auto ist nicht auf den ersten Blick als Motiv erkennbar. Man blickt in diesem Bild instinktiv in die Bildmitte und auf die Straße in der eigenen Fahrtrichtung. Das Auto wird nicht sofort als Motiv erkannt, da es sich am Bildrand, vor allem aber im Halbdunkel befindet. Erst nach dem ersten Reflex, in dem man in die Bildmitte schaut, beginnt das Auge das Bild abzusuchen. Durch die Schräglage des Autos, also den Bewegungseffekt, und seine eingeschalteten Lampen, beginnt es dann, sich als eigenständiges Motiv erkennbar zu machen. Ohne Bewegungseffekt wäre das Auto nur ein Detail am Rande, und das Bild wäre ein Bild ganz ohne Motiv, also leer.            
Beim Tankstellenbild 037 am Beginn ist genau das der Fall. Es hat bedeutungslose, fahrende Autos am Bildrand, die nicht zum Bildmotiv werden, obwohl auch das Tankstellenbild ansonsten leer ist, ohne Motiv. Der Inhalt des Tankstellenbildes sind die Linien und Richtungen, die im Bild betont wurden, ansonsten enthält es eine uninteressante Straßenszene. Dieses Autobild 079 hier enthielte eine noch uninteressantere Straßenszene, wäre das Auto nicht vorhanden.            

Klar ist, dass der ganze Umgang mit fahrenden Autos eine Sache der Belichtungszeit ist - lange Belichtungszeit: Bewegungsunschärfe, kurze Belichtungszeit: keine Bewegungsunschärfe.            
Das Autobild 079 wäre natürlich auch unscharf geworden, hätte man es mit einer langen Belichtungszeit fotografiert. Das ist aber nun wieder eine andere Frage, welche Art Bewegtbild man wie und aus welchem Grund machen möchte. Es kommt also hier ein technischer Aspekt hinzu, mit dem man experimentieren kann, wenn man die Zeit dazu hat.            
Der Automatik-Modus der digitalen Kameras, bringt zu diesem Thema oft interessante Ergebnisse zustande, mit denen man trainieren kann.

 

Spiegel- und Doppelspiegelbilder, Lichtreflexe

Auch zu diesem Thema gibt es Millionen über Millionen Bilder. Hier werden Spiegelbilder, Lichtreflexe und Bewegungseffekte miteinander gemischt. Die Möglichkeiten sind unendlich.            
Die genannten und gesuchten Effekte erzeugen vordergründig einen visuellen Eindruck. Ob man versucht, darin eine Botschaft zu verpacken, steht dann auf einem anderen Blatt.            

Beginnen wir mit dem Bild 013, der Frau im Reifen:            
 

H.Schiele: "Street"



Das Bild zeigt eine telefonierendes Frau, die ganz normal dabei getroffen ist, wie sie die Straße auf einem Zebrastreifen überquert. Sie ist allerdings ein Spiegelbild auf einer Glasscheibe. In diesem Fall ändert das aber nichts am Motiv. Man hätte sie genauso direkt fotografieren können, es wäre fast dieselbe Darstellung gewesen. Trotzdem lohnt sich die Betrachtung des Spiegelbildeffekts.            

Nun, die Person spiegelt sich in einem Autoreifen... Da ein Autoreifen aus schwarzem Gummi aber nicht spiegelt, muss eine Glasscheibe davor stehen, oder es sich um eine Art Doppelspiegelung handeln, wenn es überhaupt ein Spiegelbild ist. Es muss aber ein Spiegelbild sein, oder eine Fotomontage. Denn durch einen Autoreifen hindurch sehen kann man nicht.            
Auf dem Bild ist aber das der Fall: wir können durch den Reifen hindurch sehen, und dadurch sehen wir das Motiv.            
Es gibt eine mögliche Erklärung: eine Glasscheibe steht vor dem dunklen Autoreifen, daher spiegelt sich in diesem Glas die Person. Dunkle Flächen hinter Glasscheiben sorgen dafür, dass man auf ihnen ein Spiegelbild sieht.            
Es ist aber noch nicht klar, was hier eigentlich das Spiegelbild ist. Der Bus oder die Frau? Die Glasscheibe könnte genau so gut durch den dahinterliegen dunklen Schatten zum Spiegel werden, indem sich aus der anderen Richtung der Autoreifen spiegelt.            
Im Prinzip kann uns das egal sein, denn das Motiv ist ja eigentlich die Frau, oder?            
Vielleicht soll aber das Rad das Motiv sein, dass durch die Frau noch ein wenig interessant gemacht werden soll. Das ist unwahrscheinlich, aber möglich.            
Was auch das Motiv sein könnte, das ist der Spiegelbild-Effekt selbst. Das erscheint umso wahrscheinlicher, umso mehr man darüber redet. Wir reden also weiter darüber.            
Es finden sich nämlich hier Elemente, die den Spiegelbild-Effekt noch verstärken, obwohl sie gar kein Teil des Spiegelbild-Effektes sind. Dabei handelt es sich um den Schattenverlauf auf dem Zebrastreifen.            
Der Zebrastreifen bekommt auf der rechten Seite durch den diagonalen Schattenwurf des Hauses einen spiegelbildähnlichen Anschnitt, der verwirrt. Das kommt dadurch zustande, dass der Zebrastreifen diagonal von links oben nach rechts unten verläuft, dementsprechend auch die Frau läuft. Durch die zackenförmige Abschattung entsteht aber auf halber Strecke ein weiterer Diagonalverlauf von links unten nach rechts oben, entlang des Lichtscheins, also genau neunzig Grad gegen die Richtung des Zebrastreifens. Hier entsteht auf den ersten Blick ein weiterer Eindruck einer vorhandenen Spiegelung, die diesen abrupten Richtungswechsel erklären könnte. Also auch ohne die Glasscheibe haben wir in diesem Bild bereits ein irritierendes Element im Licht- und Schattenverlauf. Das muss das Auge erst einmal wegsortieren. Und das wird schwieriger, da ja sowieso schon der Spiegelbild-Effekt auf der Glasscheibe irritiert.            

Wir können die Entstehungsgeschichte des Bildes hier unten sehen. Es handelte sich um ein simples Foto des Busses durch eine Scheibe hindurch. In der Scheibe erscheint ein Spiegelbild der telefonierenden Frau auf dem Zebrastreifen. Sie befindet sich hinter dem Fotografen.            
 

H.Schiele: "Street"



Die Machart erinnert an das Bild 037 von der Tankstelle. Zumindest gleichen sie sich durch die Auswahl eines kleinen Ausschnitts aus dem eigentlich viel größeren Bild und durch die schwarz-weiß-Konvertierung. Man sollte diese Originale im Normalfall besser nicht zeigen, denn gefällt einem das endgültige Bild (Frau im Autoreifen, schwarz-weiß...), neigt man zu Enttäuschung, wenn man das Original sieht.            

Auch im Bild 015 ist die Verschiebung mehrerer Ebenen im Nachhinein schwer zu sortieren. Der Bus und die hinter ihm stehende S-Bahn werden durch die Scheibe fotografiert. Im Spiegelbild auf der Scheibe erscheinen der Fotograf und eine hinter ihm stehende Frau.            
Woher die Frau kommt, ist nicht so einfach zu sehen, scheint sie doch hinter dem Bus zu stehen. Warum auch immer, die Durchsicht durch die Scheibe ist in der Bildmitte plötzlich unterbrochen, so dass auf der rechten Hälfte der Scheibe das Spiegelbild entsteht. Nun werden die beiden Personen getrennt. Die rechte scheint Teil des Spiegelbildes, die linke Teil der Durchsicht durch die Scheibe zu sein, wobei nur der Kopf zu sehen ist, im Fenster des Busses. Die Frau taucht wie ein Gespenst hinter dem Bus auf. Sie verbindet dabei das Spiegelbild auf der Scheibe mit dem echten Bild hinter der Scheibe und lässt es zu einem einzigen Bild verschmelzen.            
Im ersten Augenblick ist es nicht einfach zu sehen, ob solche Bilder Fotomontagen sind oder nur Spiegelbilder. Aber die Fotos die ich auf der Straße gemacht habe, bleiben fast immer originale Fotos, die ich nur etwas heller oder dunkler mache. Manchmal verstärke ich auch Farben oder entsättige sie, um irgendetwas zu betonen. Die größten Veränderungen entstehen aber durch Beschneiden und schwarz-weiß-Konvertierung.            
 

H.Schiele: "Street"



Die Frage ist, welches Bild sich wann "durchsetzt", die Durchsicht durch, oder das Spiegelbild auf einer Scheibe.            
Am häufigsten wird das durch die Helligkeitsunterschiede hinter der Scheibe beeinflusst. Eine nicht weit hinter der Scheibe erscheinende, dunkle Fläche, z.B. sorgt für eine starke Spiegelung. Objekte in weiterer Ferne, oder hellere Objekte erzeugen hinter der Scheibe ein weniger starkes Spiegelbild. Klingt kompliziert, ist es heutzutage aber nicht, denn als Fotograf kann man all das ja live im digitalem Sucher ansehen und entsprechend mit der Belichtung manipulieren. Ein Wechsel von Autofokus auf manuelles Scharfstellen ist hierbei aber angeraten. Ein Autofokus kann solche Ideen nicht beurteilen und stellt daher oft etwas anderes scharf, als man wollte.            
Einen großen Einfluss hat es auch, wenn sich der Fotograf bei der Aufnahme von Bild 015 nach links oder rechts bewegt. Es verschwindet je nachdem die Frau entweder hinter dem Bus oder tritt ganz neben ihn.             

Bild 017 zeigt eine Totale. Die ganzen Spiegelmöglichkeiten sind am Bussteig und dem dahinterstehenden Haus zu sehen. Und diese sind, durch das spiegelnde Wartehaus und die spiegelnden Fensterscheiben dahinter, ausreichend vorhanden. Trotzdem sehen wir auch hier mehr Spiegeleffekte, als das Motiv sowie schon enthält. Es wurde also offensichtlich auch entweder durch ein Glas fotografiert, oder in ein Spiegelbild (und in der Nachbearbeitung zurückgespiegelt, sonst wären die Schriften spiegelverkehrt geblieben). Im rechten, oberen Viertel und ganz oben links, am Gebäude, kann man erkennen, das da noch etwas sein muss.            
Natürlich ist für die Wiedergabe der Szene überhaupt kein Spiegel- oder Reflexeffekt notwendig. Aber ohne den leichten "Glow" von der Scheibe, durch die hindurch fotografiert wurde, wäre das Foto in meinen Augen gar nicht mehr sehenswert. Wir haben hier also keinen Effekt, der die Szene wirklich verändert, sondern einfach nur eine Aufhübschung durch ein paar Reflexe. Man muss auch hier seine Entscheidung treffen. Es ist nicht erstrebenswert, ein schlechtes Bild aufzuhübschen, nur in der Hoffnung, dadurch würde es gut. Es kann aber ein bereits gutes Bild ein wenig Veredelung erfahren, dass schadet meistens nicht. Bei Bild diesem 017 handelt es sich eher um ein journalistisches Bild, das über den Bahnhof und das Stadtbild sprechen sollte. Das ist eine andere Grundlage als in einem neutralen Straßenfoto. Was dabei dann mit den Effekten bezweckt werden soll, ist dann vom Kontext abhängig.            
Hübsch ist in diesem Bild auch, dass im horizontalen Zentrum des Bilds, also genau in der Mitte des Bussteigs, eine Verdichtung zu sehen ist. Von dort aus nach außen lockert sich das Bild auf. Wie ein Fächer oder eine Blüte. Der Effekt entsteht, weil das Bild hauptsächlich von Linien dominiert wird, die sich im Zentrum vermischen. Dort finden sich auch die einzigen Diagonalen, die die Grundmusterung auflösen. Eine davon gehört zum Dach des weißen Hauses, die anderen sind die beiden hellen Schrägen am unteren Rand. Die Diagonalen gehören nicht zur Szene, sondern sie kommen aus dem Spiegelbild. Ohne den Spiegelbild-Effekt würde dem Bild also doch entscheidendes fehlen.            
Diese ganzen Erscheinungen kann man umso besser erkennen, je größer man ein solches Bild vor sich sieht.            
 

H.Schiele: "Street"



Auf eine Spitze getrieben ist der Spiegelbildeffekt auf Bild 021, bei dem eine Großstadtszene entsteht, wo sie eigentlich gar nicht ist. Das geschieht nicht zuletzt durch die Unruhe, die im Bild durch die Beseitigung jeglicher Klarheit entsteht, und die sich schön mit der Assoziation von Hektik verbindet.            
 

H.Schiele: "Street"



Die Spiegelung der einen Stadtszene in die andere sorgt außerdem für die Verdoppelung der Motive: mehr Menschen im Bild, und diese näher aneinander gerückt. Und wie im Bild davor, kulminiert die Szenerie an einem Punkt in der Mitte des Bildes zu einem Bildzentrum.            
Auch hier: je größer der Betrachtungsabstand, desto mehr Struktur kann man gegenüber des kleinteiligen Gewusels erkennen. Hier bilden die unzähligen vertikalen Linien mit dem Rest des Inhalts ein Grundmuster, das ins Zentrum führt und dort aufbricht. In diesem Zentrum kreuzen sich die vertikalen Linien mit der Links-Rechts-Achse, der Treppe, die das Bild längs der Mitte in oben und unten, hell und dunkel, teilt. Die Lichtverhältnisse und der Zufall unterstützen die Ausformung eines Bildzentrums an dieser Stelle, da sich die Metallträger an dieser Stelle an ihrem unteren Ende auflösen.            

Auch auf Bild 023 sieht man sehr gut, wie die Hektik ins plakative verstärkt werden kann. Hier allerdings ist die Hektik bereits dem Motiv mitgegeben. Schließlich läuft die Frau schon, währenddessen sie telefoniert, und der Bus könnte bereits angefahren sein. Die zusätzliche Unruhe durch die Überlagerung mit Spiegelungen, sowie das Kippen des Bildes nach rechts, verstärken den Effekt. Sowieso wirkt schon die Perspektive, die den Bus höher als die Person erscheinen lässt, spektakulär. Die Summe dieser ganzen Kleinigkeiten ergibt dann ein Action-reiches Bild, das abgesehen von der laufenden Frau, eher ein Standbild geblieben wäre.             
 

H.Schiele: "Street"



Bild 027 ist eine Spiegelung der besonderen Art. Dieses Mal liegt es an den Rahmen, die durch die Spiegelung entstehen, und die das Bild auf einen etwas kleineren Ausschnitt fokussieren.            
 

H.Schiele: "Street"



Es benötigt nicht immer einen wirklichen Beschnitt ("crop") des Bildes, indem Ränder abgeschnitten werden, um ein Motiv in den Fokus zu holen. In Bild 027 wird recht einfach durch einen Rahmen, der durch ein sichtbares Rechteck im Bild entsteht, etwas vom Bild abgeschnitten, oben, links und rechts, ohne aber den Rest zu entfernen (rot im Bild 027a). Mit den Originalabmessungen wäre die Frau mit dem Fahrrad doch sehr weit unten in der Ecke erschienen, vielleicht zu weit. Das wurde vermieden, indem der umgebende Ausschnitt um sie herum ein wenig verkleinert wurde. Die Straßenszene selbst bildet bereits mit den Ampeln, dem weißen Strich und dem dunklen Winkel am unteren Bildrand einen weiteren, noch kleineren, Rahmen (blau). Damit wird die Frau noch weiter in den Fokus geschoben. Aus diesem wiederum tritt sie aber rechts unten heraus und verschiebt das Geschehen noch weiter nach rechts, wo nun das kleine Mäuerchen vertikal, und die Kante zur Hecke diagonal den Abschluss auf der rechten Seite bilden (grün). Sie bewegt sich damit auch in die Richtung, in die die Formen sowieso spitz hinlaufen. Sie hat einen Ausgang aus dem Bild gefunden, wo sie aus dem Rahmen herausfindet. Sie wird rechts unten durch den "Ausguss" (grün) hinauslaufen und das Bild verlassen. Dass sie in unsere Richtung läuft, kommt der Tiefe des Bildes entgegen, kommt sie doch aus dem, mittlerweile weit entfernten, Zentrum des Bildes auf uns zu.            
Diese ganze dadurch entstehende Dynamik, Bewegung und Betonung wäre ohne das Fotografieren in den Spiegel so nicht vorhanden. Die Effekte haben mit einem Spiegelbild allerdings nur indirekt zu tun. Die beschriebene Bildaufteilung durch Rahmen entsteht nicht dadurch, dass irgendetwas spiegelverkehrt wäre. Nur lassen sich die Rahmenelemente sonst nicht erzeugen. Hinter der Scheibe, auf der man ein Spiegelbild fotografiert, müssen entsprechende Gegenstände stehen.            
 

H.Schiele: "Street"



Das Bild 050 ("Bar Breton") ist auch ein solches Spiegelbild wie das gerade beschriebene, mit der Frau und dem Fahrrad.            
Auch Bild 050 zeigt, dass Elemente, die sich hinter der Scheibe gegen die ich fotografiere, befinden, dem Motiv hinzugefügt werden können. Bei der Fahrrad-Frau wurde dadurch eine Aufteilung des Bildinhalts in verschiedene Segmente ermöglicht, und eine Richtung erzeugt. Genauso ist es auch bei der "Bar Breton". In diesem Fall sind die Elemente zwar nicht so harmonisch, wie im Bild zuvor, der Effekt ist aber genauso erkennbar.            
 

H.Schiele: "Street"



Das Bild hat eigentlich ein klares Motiv, die Gäste auf der Terrasse des Cafés, mit einem bequemen von links nach rechts-Verlauf. Unterstützt wird dieser dadurch, dass das Motiv am linken Bildrand sauber abschließt, anstatt aus dem Bild hinauszulaufen. Das Bild öffnet sich dann nach rechts, läuft in diese Richtung an der Straße entlang schräg aufwärts, wo es dann in die Querstraße mündet. Einige Linien in der mit-fotografierten Spiegelung nehmen auch diesen Verlauf, verbinden sich mit dem Motiv. Sie haben nicht denselben Winkel wie der Straßenverlauf, verlaufen aber trotzdem ebenso nach rechts aufwärts. Es erinnert dabei an das Tankstellen-Bild (037), auf dem Elemente auf der Scheibe die Richtung "mitgehen". Hier befinden sich diese Elemente nicht auf der Scheibe, sondern dahinter. Man merkt also, dass es egal ist, wie derartige unterstützende Linien erzeugt werden, Hauptsache, sie sind da. Und damit stellt man dann auch fest, dass viele Spiegelbilder nur diesen Zweck haben: sie können ein Bild unterstützen, dass ansonsten vielleicht nicht überlebensfähig wäre.            
Ein paar vertikal verlaufende Linien, die sich auch im Spiegelbild befinden, stören das Bild von der Bar nicht unbedingt. Vielleicht rauen sie es sogar etwas auf, dass es nicht zu glatt wird. Sie befinden sich auch nicht auf den Personen, sondern begrenzen die Terrasse rechts. Der linke, dunkle vertikale Balken ist zugegebenermaßen etwas störend. Der horizontale dunkle Balken dagegen, der genau über den Personen verläuft, unterstützt die Fokussierung auf das Geschehen auf der Terrasse. Er verstärkt an dieser Stelle den Kontrast des schwarz-weiß-Bildes. Dieser ist im restlichen Bild durch das Mischen mit dem Spiegelbild, schwach. Wie man es in den anderen Bildern sehen konnte, taugen dunkle Teile hinter einer Scheibe zum Verstärken des Spiegelbildes. Hat man beides, helle und dunkle Elemente hinter der Scheibe, kann man sie benutzen, um Teile des Bildes zu betonen und andere dagegen verblassen zu lassen. Das ist hier zwar zu sehen, aber es könnten natürlich noch besser geeignete, dunkle Elemente hinter der Scheibe stehen, für ein perfektes Bild. So war es aber nun einmal nicht.             
Die "Bar Breton" ist insgesamt ein recht sauberes Beispiel für ein gut geschlossenes Bild, auf dem sich mein Auge wohl fühlt. Diskussionswürdig dabei ist am ehesten der obere Bildrand, der nicht so rund abschließt, wie die drei anderen Seiten: die rechte, wie gesagt, benötigt der Links-Rechts-Verlauf um sich aufzulösen. Unten rechts in der Ecke stützt das Auto den Verlauf ebenso, genau wie die Spiegelung unten, die den unteren Rand eines angedeuteten Rahmens bildet, der den Bereich der Terrasse nach unten begrenzt. Derartiges hatten wir auch bei der Frau mit dem Fahrrad.            
Der saubere Abschluss am linken Bildrand wird durch die Verwendung des hellen Fensterrahmens möglich, man muss da schon mal mit dem zurechtkommen, was man hat. Oben also, wurde der Abschluss schwer, denn die Proportionen der Flächen passen nicht hundertprozentig, andererseits sollte der Schriftzug "Bar Breton" mit aufs Bild. Vielleicht wäre das nicht nötig gewesen, aber ein niedrigerer Beschnitt hätte auch die Straßenlaterne, die am rechten Bildrand zu sehen ist, oben angeschnitten. Hier mag jeder selbst entscheiden, welche Möglichkeit dabei besser gewesen wäre. An der unbeschnittenen Fassung sieht man, dass bei diesem Bild viele andere Möglichkeiten vorhanden wären.            
 

H.Schiele: "Street"



Auch in unbeschnittener, unverdrehter und unverspiegelter Form wäre das Bild durchaus hübsch gewesen. Man stößt hier aber auf ein einfaches aber solides Problem, dass die Straßenfotografie nun einmal hat: wären die ganzen Autos im Bild 60er-Jahre-Oldtimer, hätte man sofort den gewünschten Vintage-Straßenfotografie-Flair, und alle würden sich freuen. Das haben wir aber nicht. Die Kulissen der vergangenen Zeiten waren für die damaligen Bilder. Ich weiß nicht, ab wann die Straßenfotografen begannen Retro-Effekte in ihre Bilder einzubauen. Meistens passiert so etwas ja in Phasen, in denen es schwerfällt echte Neuerungen aufzutun. Es ist daher symptomatisch, dass die sogenannten Street-Fotografen sich sehr gerne in Ländern tummeln, die gegenüber unserer gewohnten Zivilisation rückständiger erscheinen - mit alten Autos, alten Gebäuden, alten Arbeitswelten, usw. Es erinnert uns an "unsere" alten Straßenfotos aus der Vergangenheit, die man aber heute nun mal nicht mehr machen kann.            
Heute haben wir unsere eigenen Bedingungen und müssen damit unsere Bilder machen. Die Referenzen auf die Geschichte der Fotografie sollen dabei passend eingesetzt werden, aber sicher nicht um unsere Ideenlosigkeit zu kaschieren. Beim "Bar Breton"- Bild ist ja bereits im Übermaß Gebrauch davon gemacht worden. Allein die schwarz-weiß-Konvertierung kann immer hinterfragt werden. Auch grundsätzlich das Thema "Straßencafé" als Synonym schlechthin fürs Straßenbild der kulturellen Zentren unserer Welt, verleitet leicht zu der Annahme, ein Straßencafé-Bild nährt sich wie von selbst am Straßenfotografie-Image.            

Wie bei der "Bar Breton" oder der Frau mit dem Fahrrad ist hier hier auf dem nächsten Bild (029a) ein Element auf der Scheibe entscheidend. Ob mit Spiegelbildern oder ohne. In Bild 029a ging es ohne Spiegelbild.            
Beim einfachen Fotografieren durch eine Scheibe können die passenden Lichtreflexe ja bereits auf ihr erscheinen (wie beim Tankstellenbild 037).            
So ist es auf Bild 029a. Dort wird ein Lichtreflex auf der Scheibe, durch die hindurch fotografiert wird, benutzt. Damit wird die Frau mit dem Kinderwagen in ein "Spotlight" von oben gesetzt, während sie in Wirklichkeit nur von hinten vom Sonnenlicht getroffen wird - zum Glück. Unser Spotlight würde sie nämlich nicht beleuchten, denn es existiert ja gar nicht. Es existiert nur auf der Scheibe, der Fensterscheibe eines Autobusses, auf die ein Sonnenstrahl trifft. Es ist derselbe Sonnenstrahl der auch die Frau beleuchtet. Und trotzdem hat er mit ihr nichts zu tun. Er bildet eine von ihr unabhängige Form auf der Scheibe, und hellt die auf der Fensterscheibe aufgeklebte Reklame an einer Stelle auf, durch die die Frau nun sichtbar wird, bzw. zusätzlich aufgehellt wird.            
 

H.Schiele: "Street"



Ein Spotlight (eigentlich war es ein "Backlight") zeigt auch Bild 113, allerdings nicht auf einer Scheibe, sondern auf der Motorhaube eines Autos.            
 

H.Schiele: "Street"



Den hellen Kreis um die Frau bilden oben die Wolken, in der Mitte das Sonnenlicht auf der Straße und unten dasselbe Sonnenlicht, reflektiert auf der Motorhaube. Angenommen, das Auto wäre gar nicht da, das Licht wäre trotzdem unter der Frau (vor ihr, aus ihrer Sicht) auf der Straße vorhanden. Das Auto verdeckt diesen Teil der Straße nur. Das Auto bricht den kreisrunden Schein um die Frau auf und der überbelichtete Bereich ragt nun nach rechts, bis zum Bildrand. Dort wäre er ansonsten nicht gewesen. Jetzt befindet sich die Frau nicht mehr im kreisrunden Heiligenschein, sondern in einem Viereck: zwei Reflexe auf der Scheibe (Linien), durch die fotografiert wird, bilden den Rahmen links und oben. Unten bildet ihn nun das Auto, und der horizontale Schriftzug am Gebäude bildet den Abschluss rechts. Wir hätten sonst einen runden Schein gehabt, einen Heiligenschein, der sicherlich harmonischer gewirkt hätte. Vielleicht zu harmonisch? Ich denke schon. Es hätte sicher etwas kitschig ausgesehen. Außerdem bringt das Auto ein bisschen Action mit aufs Bild, durch seine Bewegungsunschärfe.            
Wer weiß, wofür diese Action gut ist. Denn natürlich war das kitschige Bild geplant, das Motiv bettelt ja regelrecht darum. Das Auto, dass plötzlich ins Bild fährt, hat diese Idee zerstört. Oder es hat das Bild gerettet, je nachdem. Das bleibt eins der Mysterien, die wir gelegentlich auf den Bildern sehen, ob gewollt oder nicht. Aber das gehört zum Selbstverständnis der Straßenfotografie. Und was andere Leute an unseren Bildern gut finden, haben wir sowieso nicht alleine in der Hand.            
Unsere Ausstellungsbesucher finden plötzlich das eine oder andere Bild besonders attraktiv, aus Gründen, die wir selbst im Bild gar nicht sehen. Das heißt, es lässt sich nicht immer alles planen. In diesen Spielräumen liegt aber auch eine Gefahr. Es besteht die Gefahr, dass Zufallsbilder veröffentlicht werden, in der Hoffnung, sie mögen irgendetwas kreatives, etwas geheimnisvolles schon haben, auch wenn ich es gar nicht selber erklären kann. Damit, würde ich sagen, betrügt man aber sein Publikum, nimmt es nicht ernst. Am Ende fliegt man damit auf.            

Die Varianten mit dunklen und hellen Objekten hinter spiegelnden Glasscheiben hatten wir bei den Bildern mit den Autobusreifen (012, 013, 015) und bei der "Bar Breton" gesehen. Auf Bild 030 ist es sehr gut erkennbar: ob auf einer Scheibe Spiegelungen entstehen, hängt davon ab, was sich hinter ihr befindet.            
Im Gegensatz zum Bild 015 mit der Frau und dem Autobusreifen haben wir hier ganz klare Verhältnisse: hier spiegelt es nur vor dem dunklen Hemd des Mannes, der auch dicht an der Scheibe steht. Daher sieht man den Kopf des anderen Mannes auf der vorderen Seite der Scheibe. Dort wo die Silhouette des hinteren Mannes endet, endet auch die Spiegelung, und die Scheibe gibt den Blick auf das Mädchen frei. Der Hintergrund ist dort zu hell, um eine Spiegelung auf der Scheibe zu erzeugen.            
Man kann sich generell vorstellen, dass alle Stärken eines Spiegeleffekts zur Verfügung stehen können. Je dunkler es hinter einer Glasscheibe ist, desto stärker ist der Spiegeleffekt, bis hin zur kompletten Durchsicht durch die Scheibe bei hellen Bereichen hinter der Scheibe. Es gibt unendliche Möglichkeiten, damit unterschiedlichste Spiegelbilder zu erzeugen und ins Bild einzubauen.            
 

H.Schiele: "Street"



Das Motiv dieses Bildes bleibt im Übrigen im Unklaren. Der Mann im Vordergrund scheint unten etwas zu machen, was die Aufmerksamkeit des Mädchens im Hintergrund erregt. Der Mann mit der Zigarette in der Hand ist diesbezüglich nur Staffage. Er macht den vorderen Mann erst sichtbar, zumindest auf unserer Seite der Scheibe. Das Mädchen auf der anderen Seite kann ihn sowieso sehen. Denn sie kann problemlos durch die Scheibe blicken, und bei der Aktivität auf unserer Seite zusehen, welche Aktivität das auch immer sein mag.            
Dadurch, dass hier einige Personen involviert sind, fällt es auf, dass die Realität auf unserer Seite einer Glasscheibe gelegentlich gar nicht dieselbe ist, wie die Realität auf der anderen Seite, den Spiegelbild-Effekten sei dank. Dadurch können seltsame Situationen wie die auf Bild 030 entstehen.            

Sowieso ist die Geschichte auf dem Bild erwähnenswert, weil wir hier zwei Geschichten im Bild haben. Erstens haben wir den Spiegelbildtrick, aber zweitens auch das Geschehen, die Geschichte, davon, was das Mädchen beobachtet, das der Mann im Vordergrund tut. In vielen Fällen muss sich der Straßenfotograf mit einer Szene alleine begnügen. Der Blick des Mädchen auf das uns unbekannte Ereignis hätte vielleicht auch schon für ein Straßenfoto gereicht. Und würde das Mädchen einfach geradeaus blicken, hätte uns vielleicht auch schon der Spiegelbildeffekt genügt. Aber auch wenn wir hier die Handlung nicht näher erklären können, so ist auf dem Bild dennoch eine Handlung eingefangen und in einer ungewöhnlichen Bildsprache gezeigt. So funktioniert ja Kunst, und damit enthält das Bild schon viel. Wenn es uns möglich ist, sollten unsere Straßenfotos ruhig mehrere Ebenen enthalten, gestalterische und inhaltliche. Es zeigen sich ja immer wieder Probleme damit, die Bilder über die Grenze des Belanglosen ins Interessante zu bringen. Ein Straßenfoto soll einen Inhalt haben, eine Story, eine Aussage, eine Idee, ein Konzept. Wenn es dann zusätzlich einen visuellen Trick enthält, der zur Geschichte passt, dann hat man eigentlich erst das Minimum an Bestandteilen für ein Bild.            
Die Spiegelbildfotos sollte man dahingehend nicht überschätzen. Die Frage, die eine Aufnahme in einen Spiegel, oder eine teilweise verspiegelte Scheibe, mitbringt, lautet in fast allen Fällen: "Ist es wirklich da, was ich glaube zu sehen?". Viel mehr ist da meistens nicht. Diese Aussage, oder ihre Varianten, sollte auch eine inhaltliche Entsprechung im Bild haben. Sie lässt sich aber nicht auf jeden Inhalt anwenden. Geht man mit dieser Frage auf jede noch so unbedeutende Straßenszene los, überschätzt man seinen Spiegelbild-Effekt. Von diesem kann man, je nachdem wie spektakulär er einem erscheint, so begeistert sein, dass man sich einbildet, er alleine genügt für ein gutes Bild. Fotografen ziehen sich nicht selten auf den Standpunkt zurück, sie fordern mit einem Bild zur Reflexion über das gezeigte auf. Das kann man aber leicht behaupten, denn es ist schwer, nachzuweisen, dass das nicht stimmt. Und bei Spiegelbildern wird oft behauptet, man stelle damit das scheinbar offensichtliche in Frage. Aber die Frage zu stellen ist einfach, die Antwort zu geben dagegen schwer.            
Kürzlich habe ich folgendes auf einem Ausstellungsprospekt gelesen:            

"Seine...Fotografien lenken den Blick auf leicht zu Übersehendes, scheinbar Nebensächliches, spielen mit Kontexten und Bezügen und machen auf die Mechanismen unserer Wahrnehmung aufmerksam."            

Allerdings lese ich auf jedem dritten Ausstellungsprospekt denselben Satz in meinetwegen etwas abgewandelter Form. Kein Wunder, denn es lässt sich ja damit jede Fotografie verkaufen. Jedes uninteressante, handwerklich schlechte Foto lenkt den Blick auf leicht zu Übersehendes, spielt mit Kontexten und macht auf die Mechanismen unserer Wahrnehmung aufmerksam, wenn der Fotograf behauptet, es wäre so. Es wäre viel Aufwand nötig, um zu belegen, dass es nicht stimmt. In einigen Fällen könnte man genau so gut sagen: "Seine...Fotografien sind uninteressant."            

Ich bin dahin abgeschweift, weil Bilder mit Spiegel-Effekten leicht vom Inhalt ablenken. Wenn man einen Inhalt klar transportiert bekommt, hat man einen Vorteil.            

Ein gutes, weil abschreckendes, Beispiel ist Bild 114. Es ist erst einmal auch ein weiterer Exzess in der Spiegelbilderei, mit einer noch nicht erwähnten Methode: mit einem echten Spiegel hinter der spiegelnden Glasfläche.            
Ein echter Spiegel ist eben nicht teilweise transparent, wie eine Fensterscheibe, sondern gibt das Spiegelbild zu hundert Prozent wieder. Ist die Scheibe, die davor steht, wie hier im Bild 114, sauber, zeigt das Spiegelbild des Spiegels die reine, ihm gegenüberliegende Wirklichkeit ohne weitere Effekte. Die davor stehende Scheibe dagegen liefert wie immer das Mischbild aus Durchsicht und Spiegelung, je nachdem wie dunkel es hinter ihr ist.            
 

H.Schiele: "Street"



Der echte Spiegel zeigt in diesem Bild alles, was sich ihm gegenüber befindet. Man sieht den echten Spiegel aber durch die große Scheibe, auf der sich bereits ein Spiegelbild befindet. Wir stark diese dann auf dem dahinterstehenden, echten Spiegel mit zu sehen ist, lässt sich kaum erkennen. Es hängt, wie wir wissen, von den hellen und dunklen Elementen auf ihm ab.            
Die große Scheibe aber zeigt das Spiegelbild nur halb transparent, das tut der Spiegel nicht. Daher ist das Spiegelbild des Spiegels auch deutlicher und voll gesättigt. Die Scheibe dagegen zeigt ja auch noch die Durchsicht durch sie, also das, was hinter ihr liegt. In diesem Fall befindet sich hinter ihr ein leerer Raum mit einer weißen Wand. Der Raum enthält - bis auf den Spiegel - keine weiteren Gegenstände, die sich nun mit dem Spiegelbild auf der großen Scheibe mischen.  Daher erhält man ein ziemlich klares Spiegelbild - und auf dem Spiegel ist es doppelt.            
Ein wenig unübersichtlich werden die Spiegelbilder dann dadurch, dass das Spiegelbild der Säule mit dem der Scheibe perspektivisch nicht übereinstimmt, er steht ja einen Meter dahinter. Man sieht es am Gebäude, dass in der Säule etwas versetzt erscheint.            
Und einen weiteren eindeutigen Hinweis sieht man. Im großen Spiegelbild steht am rechten Ende des weißen Schildes eine Straßenlaterne. Im Spiegelbild auf dem echten Spiegel an der Säule sieht man das rechte Ende dieses Schildes, mit den Buchstaben "N" und "R", auch. Allerdings ist die Straßenlaterne verschwunden. Sie ist nun einige Meter nach hinten gerückt. Je nach Abstand zwischen Scheibe und Spiegel kann man das manipulieren, denn es ist auch vom Winkel abhängig, in dem der Fotograf zur Säule steht. Die drei Fahnenstangen dagegen erscheinen nun auf der Säule zweimal, wir sehen also sechs Stangen. Die drei Stangen die sich im großen Spiegelbild der Scheibe spiegeln, erscheinen nämlich aus unserer Sicht genau auf der Säule, direkt neben dem Abbild der drei Stangen das die Säule spiegelt. Das ist schwierig zu sortieren.            
Dagegen aber ist das Geländer im Vordergrund über beide Spiegelbilder schön "synchron", auf Säule und Scheibe, nicht versetzt wie beim Gebäude. Ist das Zufall oder Mathematik?            
Würden wir das alles weiterführen, kämen wir in den Bereich der anspruchsvollen Fotokunst. In diesem könnte aber nicht mehr jeder Hans und Franz mitspielen, so wie in der Straßenfotografie. Bei der Straßenfotografie müssen uns Winkel, Abstände, Brennweiten und physikalische Gesetzmäßigkeiten nicht weiter interessieren.            
Zur Motivwahl des Bildes 114 ist zu sagen, dass, wenn man von den ganzen Effekten absieht, ein reiner Sozialkitsch geschaffen wurde, von dem ich fast immer abrate. Alter Mann mit Krücken, heruntergekommenes Geschäftsviertel, Ladenleerstand, Wolken am Himmel... das ist eine fatale Mischung, bei der der Fotograf auch die Frage beantworten können sollte, was er damit auszudrücken gedenkt. Unabhängig vom Thema haben wir dann auch noch die "Person von hinten" (siehe Teil 4, "Personen von hinten").            
Damit ist der Inhalt des Bildes identifiziert, und wir können feststellen, dass, Sozialkitsch hin oder her, der Mann einer ungewissen Zukunft entgegen geht. Mehr ist aber auch nicht zu finden, und daher haben wir zwar ein sehenswertes Bild, mit einer ausgewogenen Aufteilung, guten schwarz-weiß-Details, lustigen Spiegelungs-Effekten - und ein bisschen fragwürdigem Inhalt.            
Zu wenig für ein gutes Straßenfoto.            

Ich habe mit Bild 020 auch eine Variante mit einem echten Spiegel, die diesen erst sukzessive von links nach rechts "aufbaut", wie einen Fächer, und dann letztendlich das Motiv scharf erfasst.            
 

H.Schiele: "Street"



Durch Dreck, Schlieren, unterschiedliche Objekte hinter dem Glas und diagonalen und vertikalen Linien sehen wir hier eine Situation, in der vier unterschiedliche Spiegelstärken entstehen: es ist zwar dieselbe Scheibe, aber auf ihr entsteht erst der Teil links, hinter dem es hell ist und auf dem kaum ein Spiegelbild entsteht. Wenn, dann entlang des Helligkeitsverlaufs von unten nach oben.            
Daneben wird es bereits etwas deutlicher und ein Teil des Jungen schimmert bereits durch das horizontale Linienraster hindurch. Auch der Himmel kommt hier ins Spiel.            
Im dritten Teil rechts daneben hat sich der Effekt bereits umgekehrt: man erkennt nur noch wenig vom Linienraster, der Junge ist aber klar als Motiv erkennbar. Im Teil ganz rechts dann, ist das Mädchen klar zu sehen, schärfer und mit insgesamt höherem Tonwertumfang. Dieses letzte Segment ist zwar immer noch kein hundertprozentiges, aber, trotz der vielen Staubflecken, ein deutliches Spiegelbild.            

Es gibt noch eine weitere Variante, die habe ich allerdings kaum genutzt: die Doppelglasscheibe. Bild 032 ist durch eine solche fotografiert, mit dem entsprechenden Effekt. Für verschiedene Eindrücke von Unruhe ließe sie sich sicherlich verwenden. Man findet sie aber nicht immer dann, wenn man sie brauchen würde. Im Bild 032 ist auch noch der Inhalt hinter der Scheibe mit im Bild: ein wenig willkürlich, ein Supermarktregal.            
 

H.Schiele: "Street"



Man erkennt aber gut, dass sich auch diese Variante eignet, um dort Bewegung zu erzeugen, wo keine ist. Oder dort wo bereits welche ist, sie zu verstärken.            
An diesem Bild 032 sieht man die Möglichkeit überdeutlich. Denn das sich spiegelnde Supermarktregal hat keinen Bewegungseindruck, das Bild ist also eigentlich völlig still. Allerdings erzeugen horizontale Linien häufig einen Eindruck von Bewegung, manchmal nur durch Assoziation. Da denke man an die vielen Bilder, die durch lange Belichtungszeiten langgezogene Scheinwerferlichter zeigen.            
Im Bild 032 gelangen die Regalbretter, die sich horizontal durchs Bild ziehen, über einen Umweg zu einem Bewegungseindruck. Es wurde nämlich durch den Bewegungseindruck der Häuserzeile diese Assoziation bereits geweckt.            
Vor allem am unteren Bildrand, wo sie nicht mehr offensichtlich als Regalbretter erkennbar sind, und sich mit dem Asphalt mischen, nehmen die Regalbretter die Gestalt von schienen-ähnlichen Linien am Boden an. Es entsteht die Andeutung einer verwackelten Aufnahme aus einem Zugfenster, aus dem heraus man auf die Häuserzeile blickt. Unten lösen sich die Margarinekartons nach rechts hin in den Eindruck eines Zauns auf. Der könnte ja eine Straße oder Bahntrasse abgrenzen. Irritierend zudem: die Regalbretter oben wären in dieser Assoziation der starre Teil, das Innere des Zuges. Unten erscheinen die Regalbretter desselben Regals als Teil außerhalb des Zugs, erzeugen die Assoziation mit Schienen, oder Fahrbahnmarkierungen, also eines Bewegungseindrucks durch Vorbeifahren. Vielleicht war es in diesem Fall glücklich, das Spiegelbild nicht in der Nachbearbeitung wieder horizontal zurück zu spiegeln. Könnte man die ganzen Margerinebeschriftungen lesen, würde das der Illusion entgegenwirken.            
Nun zeigt das Motiv, die Häuserzeile, durch die Doppelverglasung zwar eine Art Bewegungsunschärfe, aber nicht als horizontale Schlieren des Vorbeifahrens. Eher ist es eine Verwacklung. Es sammeln sich also hier einige Eindrücke und Assoziationen, die im ersten Hinsehen noch offenkundig erscheinen, beim zweiten Hinsehen aber widersprüchlich sind und irritieren. Mit diesen, nennen wir sie "Stilmitteln", bewusst zu arbeiten, wäre schon eine ordentliche Herausforderung, bei der man die Margarine im Supermarktregal und die belanglose Häuserzeile aus diesem Zufallsbild mit gehaltvollen Bestandteilen ersetzen könnte.            
Im übrigen bleibt es dabei, dass all dies auch mit Fotomontagen erreicht werden kann. Aber das ist für einen Straßenfotografen keine Herausforderung.            

Ein Gegenbeispiel sehen wir auf Bild 036. Zwar verwendet es hauptsächlich horizontale Linien, aber obwohl diese sogar wie horizontale Schlieren aus Neonlichtern aussehen, kommt der Eindruck einer horizontal verlaufenden Bewegung nicht auf.            
 

H.Schiele: "Street"



Warum nicht? Weil wir wissen in welche Richtung man sich auf einer Treppe bewegt. Und genauso wissen wir, in welche Richtung eine Rolltreppe und eine Treppe führen. Da mögen Treppen noch so sehr aus horizontalen Linien bestehen.            
In diesem Beispiel lässt sich unser Auge nicht aus der Ruhe bringen. Das Motiv ist ohne jeden Zweifel offensichtlich: es sind eine Treppe und eine Rolltreppe mit Personen, die auf der Rolltreppe von oben nach unten fahren. Nichts zieht unser Auge hier von links nach rechts. Wie auch beim Autobild 079 beschrieben, Bild 036 ist ein Standbild ohne jede sichtbare Bewegung. Trotzdem ist uns klar, dass die Leute sich nach unten bewegen.            
Dieses Bild wird also nicht durch die Macht unserer Assoziationen unklarer, so wie das vorige, sondern es wird durch sie klarer.            
Interessant ist auch, dass die starren Bestandteile des Bildes, Linien, Treppe, Tür, Neonröhren am ehesten unruhig und verwackelt erscheinen, während das Motiv, die Personen auf der Rolltreppe, die ja das eigentlich bewegliche im Bild sind, am klarsten und ruhigsten dargestellt sind. Das kennen wir ansonsten aus der Sportfotografie, wo der Fotograf seine Kamera mit der Bewegung eines Rennwagens beispielsweise "mitzieht", um diesen scharf, und den Hintergrund in Bewegungsunschärfe verschwommen darzustellen. Bei der Geschwindigkeit einer Rolltreppe, die hier noch dazu auf den Fotografen zuläuft, ist das natürlich nicht nötig. Und wenn, dann nur ganz langsam.            
Netterweise brechen die Spiegelungen und Lichtreflexe genau dort auf, wo die Personen sind. Oder der Fotograf hat sich entsprechend bewegt, um an der richtigen Stelle zu stehen.             

Eine Variante die man selten sieht, ist hier auf Bild 058 zu sehen: ein Schriftzug, der spiegelverkehrte und nicht-spiegelverkehrte Buchstaben enthält. Das kommt im modernen Leben schon mal vor, und macht die Identifizierung der richtigen Richtung etwas schwieriger. Mit der Betonung durch Kontrast und Farbe (also Graustufen in diesem Fall) fällt der Schriftzug schnell ins Auge.            
 

H.Schiele: "Street"



Der linke Buchstabe ist auch noch halb verdeckt, so das insgesamt Verwirrung aufkommt. Diese wäre gar nicht angebracht, denn das Bild zeigt ja gar keine spiegelverkehrte Szene. Da man als Betrachter aber sieht, dass in eine Schaufensterscheibe fotografiert wurde, rechnet man natürlich mit einer spiegelverkehrten Szene. Diese wurde aber in der Nachbearbeitung wieder herumgedreht, wie man am Straßenschild und am anderen Schriftzug links ("HOMME") schnell erkennt. Umso mehr irritiert trotzdem das Wort in der Mitte, mit seinen teilweise spiegelverkehrten Buchstaben.            
So lebt das ganze Bild vorerst hauptsächlich von diesem Schriftzug, der zusammen mit dem Männerfoto auch das Bildzentrum beherrscht. Dort liegt ja auch der Fokus in der Bildschärfe.            
Aber selbst die Fußgänger im Bild scheinen etwas ungläubig die Fensterfront zu betrachten. Vermutlich versuchen sie zu sehen, was ich in dem Schaufenster fotografiere. Und auch wenn die Menschen im Bild sicherlich nicht die beschriebene Szene entdecken können, gehören sie trotzdem zum Bildeindruck. Trotz aller Spiegelbild-Thematik wäre das Bild ohne die Passanten langweiliger, und vor allem, es wäre kaum noch ein Street-Foto. Es ähnelt dem Bild 30, mit den beiden Männern und dem Mädchen am Haltestellenhäuschen. Die Passanten ziehen die Geschichte des Bildes an sich, und nehmen damit den Spiegelbild-Effekt aus dem Fokus. Dieser wäre alleine auch nicht interessant genug.            

Eine weitere Spielart des vermeintlichen Spiegelbildes deutet sich in Bild 060 an: ein Ersetzen des Spiegelbildes durch ein Objekt, das genauso aussieht wie ein Spiegelbild aussehen müsste, wenn es vorhanden wäre.            
Hier wird aus einer fahrenden S-Bahn heraus fotografiert, und man könnte die eigene S-Bahn als Spiegelbild einer gegenüberliegenden Fensterscheibe sehen. Stattdessen sieht man eine andere S-Bahn, die aber genauso aussieht wie ein Spiegelbild der eigenen Bahn aussähe.            
Dieses "Konzept" wird, wie gesagt, hier aber auch nur angedeutet, denn in Wirklichkeit spiegelt sich die eigene S-Bahn sehr wohl in der gegenüber vorbeifahrenden. Aber nur in deren Fenster, und dem entsprechend nur ein kleiner Ausschnitt unserer Bahn. Aber nicht nur der, denn in diesem Bild wird die Verwirrung mit Spiegelbildern und Motiven auf die Spitze getrieben, soweit, dass es mir schwerfällt sie noch nachzuvollziehen.            
 

H.Schiele: "Street"



Der Blick fällt hier durch das Fenster, welches das komplette Bild umfasst. Nur unten ist sein Rand zu sehen, der übliche, schwarze, Gummirand eines S-Bahn-Fensters. Das Hauptmotiv, das Bild mit Deutzer Brücke, Rheinauhafen und den 3 Häusern ist eine Spiegelung in meiner großen Scheibe vom gegenüber-, also hinter mir, liegenden Fenster meiner S-Bahn. Diese 3 Häuser befinden sich also in meinem Rücken.            
Nur ein kleines Stück darunter sieht man dieselbe Szene in einer anderen Spiegelung noch einmal, diesmal im Fenster der vorüberfahrenden Bahn. Die Fenster der beiden S-Bahnen, das der vorüberfahrenden Bahn, und meine beiden (vor mir und hinter mir), sind nicht ganz parallel, und so erscheint die Szene im Fenster gegenüber ein wenig weiter unten. Schwierig wird es beim letzten Fenster, dem ganz rechts. Ohne Open Street Map lässt sich das nicht mehr ermitteln: es handelt sich beim Motiv um die Kirche St. Kunibert. Diese liegt auf der einen Seite der Hohenzollernbrücke, über die wir fahren, wogegen sich die 3 Häuser auf der anderen befinden. Es kann sich bei diesem dritten Bild nur um eine Doppel-Spiegelung handeln, oder schlicht um eine Durchsicht, also gar keine Spiegelung. Allerdings existiert auch von der St. Kunibert-Szene ein leicht nach unten versetztes Abbild, wie bei den 3 Häusern auch. Es ist gerade noch in der rechten, unteren Ecke des blauen Bereichs erkennbar. Dieses ist auch ein Spiegelbild eines Fensters, wiederum im Fenster der vorüberfahrenden Bahn. Das ist so eigentlich nicht mehr möglich, und so habe ich mein erstes Spiegelbilder-Foto mit zu vielen sich ineinander spiegelnden Spiegelbildern, die ich am Ende nicht mehr nachvollziehen kann.            
Es handelt sich auch bei diesem Bild um ein - klick - normales Foto, und nicht um eine Fotomontage. So kann es vielleicht irgendwann noch einmal aufgeklärt werden.            

Ein übersichtliches Spiegelbild, und eines in einer Art, wie sie hier auch noch nicht vorkam, ist zu sehen auf Bild 066. Es zeigt einen echten Spiegel. Allerdings spiegelt sich der Junge nicht darin, sondern er wird normal wiedergegeben, wie eine Kopie. Aber es spiegelt sich nicht der Junge, den wir vorne sehen, im Spiegel. Denn dann müsste er uns im Spiegel hinten, mit dem Goldrand, den Rücken zudrehen. Tja... Aber beim genaueren Hinsehen wird die einfache Erklärung plausibel: Wir sehen zwei Spiegelbilder, nicht eins. Der Junge muss rechts neben dem Fotografen stehen, außerhalb des Bildes, und zwar mit Blickrichtung durch die Scheibe in den Spiegel. Also genau wie der Fotograf. Er steht nun vor zwei Spiegeln und spiegelt sich in beiden auf dieselbe Art und Weise. Da wir ihn selbst auf dem Foto nicht sehen, sind wir irritiert und halten das vordere Abbild für den Jungen, der sich im Spiegel hinten spiegeln müsste.            
 

H.Schiele: "Street"



Bild 069 zeigt erstmals absichtlich passend übereinandergelegte Linien von Bild und Spiegelbild, also Linien aus dem Inneren des Ladenlokals, in dessen Scheibe sich das Gebäude spiegelt, und Linien des Gebäudes.            
Allerdings verstärkt dieser Effekt die Straßenszene nicht, genauso wenig wie er die Architektur des Gebäudes herausstellt. Und ein einfacher Rollerfahrer im Anzug macht noch lange kein Street-Bild, auch wenn viele das zu glauben scheinen. Und auch machen ein paar Linien noch lange kein Architekturbild. Das rechts unten durch die Spiegelung eingeblendete Hemd ändert auch nichts am Bild.            
Für den zielgerichteten Einsatz einer solchen Konstruktion müsste der Straßenfotograf dann doch ein wenig früher aufstehen.            
 

H.Schiele: "Street"



Das nächste Bild 116 konstruiert zumindest eine "echte" Illusion und verlegt ein prominentes Gebäude an einen anderen Platz. Möglich wird das durch noch eine weitere Variante mit Spiegelbild. Diese funktioniert mit dem Effekt, der auch beim Bild 030 mit den Männern und dem Mädchen an der Bushaltestelle, oder dem mit der Frau hinter dem Bus auf Bild 015 wirkte. Die Scheibe spiegelt nur in einem Bereich eine Szene. Im anderen Bereich bietet sie die gewöhnliche Durchsicht.            
Das Bild teilt sich in diesem Bild 116 in oben und unten, getrennt durch die schräge Linie der Markise. Allerdings wird in diesem Fall kein irgendwie abstraktes, schräges oder unwirkliches neues Bild geschaffen, sondern die Spiegelung aus der oberen Hälfte wird mit der Durchsicht durch die untere Hälfte zu einem glaubwürdigen Bild zusammengefügt - einer Illusion trotzdem in diesem Fall. Denn das stadtbekannte Gebäude, das Operngebäude, wird an einen Platz versetzt, an dem es nicht steht, direkt am Straßenrand.            
 

H.Schiele: "Street"



Klar - das ist ein Effekt den man permanent erlebt, in Fotomontagen. Auf tausenden Bildern werden der Kölner Dom oder der Eiffelturm in andere Gegenden oder Zusammenhänge montiert.            
Dieses Bild ist aber ein sauberes Straßenbild, dass sich für den Effekt nur das zunutze macht, was wirklich vorhanden ist. Das erscheint es mir ein klein wenig anspruchsvoller.            
Insgesamt halte ich den Effekt an sich aber auch nicht für mehr als eine kleine Spielerei. Die Grenze zum Trivialen ist schnell erreicht. Man muss ja nur in Köln in die Schaufensterscheibe eines Reisebüros fotografieren, in der sich der Dom spiegelt, und man hat den Kölner Dom in der Südsee. Das ist so einfach, man würde sofort die Frage aufwerfen, warum man nicht gleich eine Fotomontage verwendet.            
Hier im Bild 116 ist bestenfalls für Köln-Kenner die nette Spielerei geschaffen, dass die, sehr bekannte, Oper nun direkt an die, sehr bekannte, Nord-Süd-Fahrt gerückt wurde. In künstlerischer Hinsicht ist die Aktion aber trotzdem, um im Bild zu bleiben, provinziell. Es kommt außerdem der Verdacht auf, eine Bürokratie-kritische Andeutung verpacken zu wollen, denn das Opernhaus ist auch in Köln ein Politikum, und seit jeher schlecht durchdachten städtebaulichen Maßnahmen ausgesetzt.            
Eine Spielart im Bildaufbau mit Spiegelbildern zeigt das Bild trotzdem.            

Aber immer noch gibt es eine Spiegelbildvariante, die in den bisherigen Beispielen nicht verwendet wurde. Bild 070 zeigt zwei S-Bahnen, die aneinander vorbeifahren. In der einen befindet sich die Kamera, und diese macht ein Bild von der "eigenen" S-Bahn, als Spiegelbild im Fenster der gegenüber fahrenden. Da das Foto mit einer Belichtungszeit von 1/4 Sekunde aufgenommen wurde, verschwimmt die gegenüber fahrende Bahn in Bewegungsunschärfe. Soweit, so normal. Da die S-Bahn aber durchgehend Scheiben hat, wirken die, trotzdem die Bahn fährt, wie eine einzige langezogene Scheibe, also ein langgezogener Spiegel, der ein scharfes Bild liefert. Wären Sie darauf gekommen?            
Um das Bild so mit dem totalen Fokus in der Bildmitte und dem lesbaren "Thema" zu machen, muss man sich zum Fotografieren aber auch an das Fenster der eigenen S-Bahn stellen, an dem die Leuchtschrift befestigt ist. Sonst hat man kein lesbares Ortsschild, und der schöne Effekt verpufft.            
 

H.Schiele: "Street"




Generell können wir an dieser Stelle fest halten, dass das Hinein-Fotografieren in Züge, Bahnen und Autos schnell viele, und schwer berechenbare Ebenen ergibt. Je nachdem ob beide Fenster zu sehen sind, das vordere, und durch den Innenraum hindurch auch das hintere, finden sich viele mögliche Spiegelungen, durch Hell- und Dunkelbereiche sogar Spiegelbilder und Durchsichten zugleich in derselben Scheibe, wir haben das nun oft genug gesehen. Je nachdem welche solcher Kombinationen hinter der anderen zu finden sind, verdoppelt sich schnell die Anzahl der zu erkennenden Bilder, Bild 060 (mit der S-Bahn auf der Hohenzollernbrücke) sprach da Bände. Je nach Motiv hinter dem Fahrzeug, dort könnte ja auch noch eine Schaufensterscheibe stehen, kann es einfach schwierig werden. Und einen Sinn soll es ja auch noch haben.            

Als letzte Variante nehmen wir zwei Ausschnitte des selben Bilds (025 und 026). Dieses enthält neben den Elementen Spiegelung und Durchsicht auch wieder eine Person.            
In diesem Fall löst die Person die bis dato eher technische Fummelei auf.            
Wir haben bereits Bilder gesehen, in denen Personen als Bildmotiv das Geschehen im Bild bestimmen: die 2 Männer mit der Frau, die Frau mit dem Fahrrad, die Frau mit dem Kinderwagen. Dort wurde jeweils das Motiv, die Person, herausgestellt, unter Zuhilfenahme der Spiegelbild-Effekte.            
Es gab aber auch das Bild 058, mit dem Schriftzug der zum Teil spiegelverkehrte Buchstaben enthält. Hier waren der Schriftzug, und seine Verkehrung ins Spiegelbild das Motiv. Die Passanten dagegen bildeten nur einen Teil der Kulisse. Und sie lockerten das Bild ein wenig auf, füllten es mit Leben, so dass es nicht nur auf den rein technischen Aspekt mit dem Spiegelbild reduziert bleibt.            
Es gibt also unterschiedliche Rollen für Personen im Bild, je nachdem wie sie im Zusammenhang inszeniert werden.             

Das erste der beiden Bilder enthält wieder eine Masse an Spiegelbild-Effekten. Der Mann nimmt diese aus dem Fokus. Ob er, oder die Spiegelbilder, das eigentliche Motiv sein sollen, ob er die Darstellung der Spiegelbilder unterstützen soll, oder die Spiegelbilder seine Darstellung, das ist noch nicht ganz klar.            
Es passiert wie im Bild 058 mit den gemischten Buchstaben: die Person integriert sich ins Bild, denn er scheint mit den Spiegelbildern zu interagieren.            
Im großen Ausschnitt von Bild 026 wirkt es, als täte der Mann besser daran, wieder in seine Zeitung zu blicken, anstatt sich von den visuellen Eindrücken vor ihm in der Scheibe erschlagen zu lassen. Das ist aber eine falsche Interpretation seines Gesichtsausdruckes, denn natürlich sieht er aus vier Gründen ganz anders als wir.            
 

H.Schiele: "Street"



Einmal, das ist sowieso klar, sieht er alles aus einer anderen Perspektive. Die Dinge die wir sehen, sieht er gar nicht. So wie wir das nicht sehen, was er sieht. Denn während er auf die eine Seite des Bahnhofs blickt, blicken wir auf die andere. Er nach links und wir nach rechts. Und durch das zweite Fenster, durch welches wir das weiße Haus sehen, blickt er gar nicht.            
Welchen Teil auch immer er sieht, er liest, zweitens, auch die Schrift richtig herum, wogegen für uns nur spiegelverkehrte Schrift erscheint. Nicht lesbare Schriften erzeugen immer Irritation. Unser Bildeindruck wird deswegen zu einem großen Teil durch Unklarheit bestimmt. Wir wissen auch nicht, warum der Fotograf uns diese unlesbaren Schriften präsentiert, das regt unsere Gedanken vielleicht zusätzlich an.            
Für den Mann gibt es diese Unklarheit nicht, er kann alles lesen und wird sich nichts außergewöhnlichem ausgesetzt fühlen.            
Drittens wird der Mann, selbst falls er in ähnliche Spiegelbilder schaut, nicht verwirrt sein. Es können ja auch für ihn irgendwo Spiegelbilder zu sehen sein. Bei den vielen Glasscheiben an einem Busbahnhof ist das sogar sehr wahrscheinlich. Aber sein Gehirn ist blitzschnell in der Lage, die ganzen Spiegelbilder, Lichtreflexe und Bewegungen zu überblicken, zu verstehen und einzuordnen. Er wird sie fast gar nicht bemerken.            
Diese Fähigkeit unterscheidet einen Menschen von einer Maschine, z.B. einem Fotoapparat. Wir wären sonst kaum in der Lage lebendig eine große Straßenkreuzung zu überqueren.            
Wir dagegen, als Betrachter des Bildes, befinden uns in einer langsamen Auseinandersetzung mit den Bildern auf einem Schnappschuss, der ein Bild, aber nicht die Wirklichkeit zeigt.            
Und viertens, würden wir seine getönte Sonnenbrille vor unsere Kamera halten, alle unsere Spiegelbilder würden direkt wieder ganz anders aussehen, und der Eindruck von Raum und Tiefe wäre ein ganz anderer. Schließlich entstehen unsere Spiegelbilder ja durch die Position von hellen und dunklen Objekten hinter den jeweiligen Scheiben. Hinter einer Sonnenbrille verändert sich demnach das ganze Bild.            
Wann die jeweils notwendige Helligkeit, bzw. Dunkelheit eines Objekts erreicht ist, um es auf der Scheibe sichtbar zu machen ist ja kaum berechenbar.            
Das aber ist alles "hätte, wäre und wenn".            
Auf dem Bild ist der Mann, so wie er wirkt, Teil des Bildes geworden. Er passt mit seinem angestrengten Gesichtsausdruck gut in eine anstrengende und heiße Sommerszene, und wird  scheinbar erschlagen von dem chaotischen Ausblick, obwohl es diesen für ihn gar nicht gibt. In Wirklichkeit blinzelt er nur ein wenig ins Gegenlicht.            
Aber viele Fotografen beschreiben als ihr Ziel, Dinge aus ihrem Kontext zu reißen und neu zu visualisieren. Das passiert auch hier. Alleine die Wahl des Ausschnitts bietet hier Möglichkeiten. Der große Ausschnitt desselben Bildes verschiebt den Fokus der Aufmerksamkeit weg von den wirren Bildern im Fenster auf das Ganze. Der große Ausschnitt in Bild 025 zeigt ein Road-Movie. Dafür sorgen das Cinema-Format, der Bahnhofs- und Flughafen-Kontext und der weit in die Ferne gerichtete Blick des Mannes aus dem Fenster. Auch, dass er die einzige Person in der Szene zu sein scheint, unterstützt die Idee des einsamen Reisenden - anderer Bildausschnitt, anderes Bild.            
 

H.Schiele: "Street"

 

 

Fallstricke

## Körperhaltung

Zur Körperhaltung der gehenden und vorbeigehenden Personen soll hier kein Leitfaden darüber entstehen, welche Körperhaltungen es gibt und wie sie sich zum Fotografieren eignen. Es geht um ein einziges interessantes Detail in der Bewegung von gehenden Personen. Dieses hat einen großen Einfluss in der Straßenfotografie.            

Wir sehen den Mann mit dem Schirm auf Bild 004 und erkennen auf Anhieb: an seiner Erscheinung ist alles in Ordnung. Er sieht elegant aus, aufrecht, schreitet langsam daher, eine Hand in der Tasche, in der anderen den Schirm. Das ist es, worum es geht.            
Ansonsten ist dieses ein schlecht belichtetes, unscharfes Bild, das ist klar.            
 

H.Schiele: "Street"



Um es direkt vorwegzunehmen: ein Bein gerade und ein Bein angewinkelt. Mehr ist es nicht.            
Beobachten Sie die Straßenfotos dieser Welt, oder beobachten Sie sich selbst beim Aussortieren ihrer Fotos. Übrig bleibt: ein-Bein-gerade-ein-Bein-angewinkelt.            
Hauptsächlich auf Bildern, in denen nur wenige Personen vorkommen, oder nur eine, stellen wir fest: sie haben ein Bein gerade und eins leicht angewinkelt. Das gilt auch für unseren Mann mit dem Schirm, auch wenn das Bein nur sehr leicht geknickt ist.            

Die Frau im Bild 117 bewegt sich ganz anders. Trotzdem befolgt auch sie dieses Konzept. Ein Bein ist gerade, tritt auf, das andere ist angewinkelt. Man muss, das sieht man bei ihr, das Bein nicht einmal richtig sehen können. Die Beinstellung führt zur gewünschten Körperhaltung. Man sieht in diesem Bild auch direkt den Unterschied. Die Person im Hintergrund wirkt ungelenk, stakst daher. Der Mann hat das vordere Bein noch durchgestreckt, wie auch das hintere.            
 

H.Schiele: "Street"



Das Problem mit dieser Regel ist simpel: Eine gehende Person hat fast permanent ein geknicktes Bein und ein durchgestrecktes. Es ist überhaupt nicht schwer zu fotografieren. Bei drei Bildern auf dieselbe gehende Person stimmt bei mindestens einem davon diese Haltung. Da entsteht immer wieder der Trugschluss, dass man glaubt - zack - da habe man ja einen Glücksschuss gemacht, der in jedem Fall dem Bild einen tollen Charakter verleiht, eine sehenswerte Momentaufnahme, die einen insgesamt stimmigen, harmonischen Bildeindruck erzeugt.            
Es ist aber so einfach, und gelingt so oft versehentlich, dass millionenfach uninteressante Motive von stimmig getroffenen Personen veröffentlicht werden. Ein großer Teil der Bilder mit von hinten fotografierten Personen resultiert aus diesem Trugschluss. Unendlich viele Bilder, die im Prinzip Architekturbilder sind, von Straßen inmitten moderner Innenstadtarchitektur, enthalten eine einsame, dort entlanggehende Person. Dadurch wird ein Architekturfoto plötzlich zum Straßenfoto. An der Logik kann etwas nicht stimmen.            

Hier unten sehen wir ein Bild, dass sich auf eine Person konzentriert. Er zeigt nicht die beschriebene Haltung, denn mit der Haltung des Mannes soll Komik erzeugt werden.            
Ein Widerspruch, denn die Situation enthält überhaupt keine Komik. Der Druck auf den Auslöser eine halbe Sekunde früher oder später, würde einen elegant daherschreitenden Mann zeigen - denselben Mann. Möglicherweise würden wir die Mütze dann sogar auch als elegant wahrnehmen, anstatt als originell. Die als schiefstehend fotografierte Lampe erschiene uns vielleicht nicht schräg, sondern perspektivisch passend.            
 

H.Schiele: "Street"



Man kann sich vorstellen, dass die Schwierigkeit umso größer wird, je mehr Personen im Bild sind, die sich unabhängig voneinander bewegen. Wenn diese alle in einer sehenswerten Körperhaltung einfangen werden sollen, wird es tatsächlich immer mehr zum Glücksschuss. Oder eben zum "disziplinierten Schuss", der etwas Vorbereitung und Geduld erfordert. Auf dem Bild 010 haben immerhin schon drei Personen eine saubere Haltung. Glück gehabt: die beiden äußeren stellen sich zudem gerade in einen "slot" zwischen den vertikalen Linien, indem sie gut erkennbar sind. Nur die Person in der Mitte verschwindet teilweise im Durcheinander. Durch ihre gelungene Körperhaltung, führen die drei ein hübsches Tänzchen auf.            
 

H.Schiele: "Street"



Drei Personen sehen wir auch auf Bild 155. Nicht wie in einem Tänzchen, sondern in diesem Fall wie in einem Theaterstück werden die drei Frauen herausgestellt. Sie profitieren ganz besonders von ihrer jeweiligen eleganten Haltung.            
Es wird völlig klar, dass die Anzahl an Zufallstreffern mit großen Schritten abnimmt, je mehr Personen auf dem Bild mit einer guten Haltung erscheinen. Während man an einem Tag leicht eine zweistellige Anzahl gut getroffener Einzelpersonen einfangen kann, muss man auf ein entsprechendes Gruppenensemble lange warten. Die Ergebnisse eines Straßenfotografen, aus dieser Sicht beleuchtet, lassen einen Rückschluss auf sein Engagement und seine Geduld zu.            
 

H.Schiele: "Street"


 

H.Schiele: "Street"



Bei vier Personen sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es klappt, deutlich.            
Und bei Massenszenen, wie unten, ist es nur noch eine Herausforderung.            
 

H.Schiele: "Street"



Orchestrierte Szenen wie eine Ballet-Aufführung oder eine Militärparade gelten selbstverständlich nicht. Orchestrieren muss der Fotograf.            

Wir können das folgende Bild 045 als eine Variante nehmen, die der Problematik anders begegnet. Hier sind auch 4 Personen im Bild. Wenn man die Beine einfach abschneidet, wird es gleich viel einfacher. Bei der Person rechts sieht man, ein Bein ist angewinkelt - passt, unsere Assoziation mit einer fotogenen Schritthaltung ist erzeugt. Die Person braucht noch nicht einmal im Bild zu sein.            
Offensichtlich ist hier aber die Schwierigkeit, die drei Personen in die Fensterscheiben zu bekommen. Dafür gilt das bei Bild 010 gesagte: Glück oder Arbeit.            
 

H.Schiele: "Street"



Ich möchte in diesem Teil nicht jedes Thema exzessiv auswalzen. Wechseln wir zum nächsten:            
 


## Kinder

 

H.Schiele: "Street"



Kinder rufen verschiedene Instinkte wach. Daher werden sie bildsprachlich seit jeher gerne als Symbole verwendet: Reinheit, Unschuld, usw, aber auch Aufbruch, Zeitenwenden, also politischer, religiöser Ge- oder Missbrauch sind Standard. Ich kann bis heute dabei keine großartigen Veränderungen feststellen.            
Die Kinder teilen sich diese Eignung mit den jungen Frauen, die für ähnliches verwendet werden, vor allem für Revolutionen und Befreiungskriege. Egal, das würde jetzt weit ins kunstgeschichtliche führen, und damit kenne ich mich gar nicht aus.            
Bei den Straßenfotografen lösen Kinder häufig Reflexe aus, denn die symbolische Bedeutung der Kinder schlummert im Hinterkopf. Man kann schwer davon unbefangen bleiben, wenn in einer Straßenszene plötzlich Kinder auftauchen. Wie fremdgesteuert taucht der Zwang zum Einbeziehen ihrer kunsthistorischen Bedeutung ins Bild beim Fotografen auf. Natürlich kommt es sehr leicht zum klischeehaften.            
Jedenfalls dekonstruieren Kinder auf Fotos blitzschnell die restliche Umgebung, heben Kontexte auf. Vermutlich liegt das am zuvor gesagten: sie stoßen Instinkives in uns an. Wir wechseln also blitzschnell unserere wahrnehmerische Ebene auf eine unserer Gefühlsebenen, sind also in der Lage, aus einem Kontext auszusteigen, und ein Bild, das wir sehen, plötzlich anders zu sehen.            
Verständlich, dass wir einen solch besonderen Augenblick dann gerne fotografieren.            
Außerdem glauben wir zu wissen, dass die Kinder die Welt mit anderen Augen, mit Kinderaugen sehen. Auch dieser Hintergrund erzeugt bei uns die Vorstellung, eine gesehene Szene plötzlich selbst auch anders sehen zu können.            
 

H.Schiele: "Street"


Das Kind ist klein - die Welt ist groß            


Kindern wird oft die Eigenschaft zugeschrieben, sich unbefangen in etwas vertiefen zu können, unbeeindruckt von der Welt um sie herum, so wie hier unten.            
 

H.Schiele: "Street"



Die Mahnung an die Erwachsenen, das kindliche in sich wach zu halten, das "Kind in sich" zu entdecken, steckt oft in den Bildern mit Kindern. Damit dient das fotografierte Kind aber nur dem Zweck der Erwachsenen, und das ist etwas, dass man selbstverständlich gar nicht möchte. Es ist ein Missbrauch, um es klar zu sagen.            
Überhaupt werden die Kinder oft das Ziel der Projektionen von Erwachsenen, die Kinder als Wesen betrachten, die frei von den schlechten, im Laufe des Erwachsenwerdens, erworbenen Eigenschaften sind, stattdessen noch über die Reinheit verfügen, die entweder man selbst, oder aber andere Erwachsene, nicht mehr haben. Also Vorsicht bei Straßenfotos mit Kindern.            

Überprüfen Sie außerdem den Gegensatz: Wie oft sehen sie Straßenfotos mit Kindern, auf denen die Idee gezeigt wird, dass Kinder zu klein, zu jung, zu unerfahren sind, und von Erwachsenen den Weg gewiesen bekommen müssen, von ihnen lernen müssen und wollen? Diese Vorstellung, beispielsweise, ist unpopulär, erscheint uns überkommen und altmodisch, und so bleibt unser Umgang mit Kindern in der Bildsprache auf die positiven Konnotationen beschränkt. Aber mit beschränkter Wahrnehmung werden wir den Bedürfnissen von Kindern nicht gerecht werden.            

Wir erleben damit in der Straßenfotografie die Kinder nahezu permanent für die Betonung von Gegensätzen: das junge, unbelastete, aber auch hilflose Kind im Gegensatz zur, vom erwachsenen Menschen geschaffenen, unmenschlichen Umgebung. Das Kind als Opfer struktureller Gewalt, stellvertretend aber für den Menschen an sich als Opfer struktureller Gewalt. Mit Kindern lässt sich dieser Kontrast plakativer darstellen, deswegen nutzt man sie gern zur Verdeutlichung.            
Man nutzt aber ihre Bedeutung, um leicht auf einen Klick ein Bild mit gesellschaftskritischer Aussage zu erschaffen, in welches man kaum noch eigene Arbeit stecken muss.            
Das Symbol, so glaubt man, spricht von selbst.            

Das Aufzeigen von Gegensätzen, oder scheinbaren Gegensätzen, steckt aber nicht nur im Kinderthema. Es ist einen eigenen Blick wert.            


## Präsentieren von Gegensätzen

Ich habe von Hobbyfotografen wenig Beschreibungen so häufig gehört, als dass ein Ort, ein Umfeld oder Zusammenhang, "voller Gegensätze" sei, und man diese zum Thema eines Bildes machen wollte.            

Wir sehen die Faszination von Gegensätzlichem sehr oft in Straßenfotos, nicht nur im Zusammenhang mit Kindern. Viele Fotografen versuchen Kontraste zu zeigen, Gegensätze in, z.B. einem Bild mit einem glänzenden Bankenviertel und einem Obdachlosen, einem historischen Gebäude und einer neuen Stahl-Glas-Konstruktion, einem Marktstand und einer Amazon-Werbetafel. Alt gegen neu, schön gegen hässlich.            
Enthalten ist meistens eine Anklage. Beklagenswerte Zustände sollen aufgezeigt werden.            
Es gilt die entscheidende Frage zu stellen:            

"Warum willst du diesen Kontrast, diesen Gegensatz zeigen?"             

Die meisten Fotografen wissen keine Antwort darauf. Man beschränkt sich darauf, den Gegensatz erkannt, und im Bild festgehalten zu haben. Das macht Spaß, ist aber ein sehr alter Hut.            
Die Idee, mit Bildern beim Betrachter Reflexionen über das gesehene, die Realität, Schein und Wirklichkeit zu erzeugen, wurde schon vor hundert Jahren im ganz großen Stil aufgegriffen. Und selbst damals war sie nicht neu. Man kann diese Idee heute nicht mehr als neue Entdeckung präsentieren, man kann nur noch anwenden. Man sollte aber auch eine Antwort auf die Frage kennen, was man heute damit ausdrücken will.            

 

H.Schiele: "Street"



Es müssen nicht die genannten ganz einfachen "Gegensätze" sein, die sich viele Fotografen vornehmen. Die Trivialität wird sehr gern hinter Symbolen versteckt.            
Hier ist ein typischer Vertreter eines Street-Fotos, das viele Klischees aufgreift. Ich beschreibe es folgendermaßen: Zu sehen ist ein Passant, irgendwie lustig getroffen. Ein weiterer, der eine Zigarette raucht, ist im Hintergrund zu sehen. Seine Körperhaltung ist gerade für ein Street-Foto passend (ein Bein angewinkelt), ganz im Gegenteil zum Mann im Vordergrund, der aufgrund seiner Haltung "unelegant" und plump wirkt. Mit dem Rauchen einer Zigarette ist der Mann im Hintergrund gerade dabei, für einen kurzen Augenblick eine Pause aus seinem Alltag zu nehmen. Das ist das Leitthema des Zigarettenrauchens, es ist ein Symbol.            
Es ist allerdings auch eine Spekulation. Wer weiß, welche Tätigkeit er kurz vorher und auch wieder danach auszuüben hat. Ein bedeutungsschwangerer Ausblick, eine gängige Symbolik, der Ansatz einer Milieustudie.            
Blicken wir wieder auf den Mann im Vordergrund. Der Mann guckt in sein Telefon. Und darin verbirgt sich die nächste (bahnbrechende) Erkenntnis: die Menschen blicken heutzutage sehr häufig auf ein Smartphone. Dieser Mann nimmt nicht einmal mehr die Umgebung um sich herum wahr, wie ein Kind - der moderne Mensch, das moderne Leben, voller Entfremdung, alles inklusive. Das Thema "die Stadt, die Welt im Wandel" ist ja alleine durch die ganzen Baukräne im Hintergrund ausreichend symbolisiert. Und jetzt - nachdem einige typische Stereotype erfasst sind, kommt noch das Hauptthema, plakativ, im Gegensatz zu den anderen, die ja unter der Bildsymbolik verborgen liegen, erkannt und festgehalten, das Motiv des Bildes: der Mann in seinen langweiligen Spießerklamotten und seinem Bürolook trägt einen "StarWars"- Rucksack.            
Zeigt das nicht furchtbar viel? Zeigt das nicht, welche Widersprüche und Gegensätze ein Street-Fotograf durch seinen aufmerksamen, geschulten Blick aufdecken kann? Wenn sich der Fotograf angesichts all dieser Facetten nun nicht für einen aufmerksamen Beobachter hält - wann dann? Wurde nicht eine vielschichtige Tiefgründigkeit auf humorvolle Art im Motiv freigelegt? Kein Mensch ist schließlich ohne Facetten, ohne verborgene, positive Seiten. Beurteilen wir nicht meistens oberflächlich? Und benötigt es nicht den Straßenfotografen, den Künstler, den Beobachter, um uns inmitten des modernen Großstadtlebens, der Schnelllebigkeit und der Informationsflut, zumindest für kurze Zeit die Tiefe der Dinge, die uns umgeben, aufzuzeigen?            
Schön wäre es ja. Aber so einfach geht es natürlich nicht. Im Gegenteil, der Straßenfotograf sollte sich von billigen Effekten und Symbolen fernhalten. Und das fängt eben bei der Aussage an.            
Es ist eigentlich recht einfach gedacht. In vielen Fällen möchte man mit seinem "Street"- Bild auf etwas aufmerksam machen. Auf etwas, das andere eben nicht sehen.            
Das sollte aber etwas sein, auf das nicht tausendmal vorher bereits andere aufmerksam gemacht haben. Denn man schafft hier einen Indikator dafür, ob man sich im Bereich der Hobbyfotografie bewegt, oder ob man wirklich etwas zu sagen hat.            
Die Aussagen "es gibt viel Müll auf unseren Straßen", oder "in dieser Stadt gibt es Obdachlose, in der Gesellschaft muss es Probleme und Ungerechtigkeiten geben" wird man nicht als Erster getätigt haben, wenn man ein entsprechendes Foto veröffentlicht. Man wird auch nicht derjenige gewesen sein, der als erster dafür sorgt, dass Missstände "sichtbar" werden. Auch das Bild "es wächst eine kleine Blume zwischen zwei Betonklötzen hervor" zeigt keine neue Erkenntnis, wenn diese lauten soll "wir haben das wahre Leben unter Beton eingemauert, aber es bahnt sich immer wieder seinen Weg an die Oberfläche".            
Zum Nachdenken anregen wollen, ist schön. Aber man braucht auch ein Publikum, und man soll es weder langweilen, noch für dümmer halten, als es möglicherweise ist.            

## Personen von hinten

Ein weiteres zweischneidiges Thema scheint mir das unauffällige Fotografieren von vorbeilaufenden Personen zu sein. Und die extremste Form davon praktizieren wir beim Fotografieren von Personen von hinten.            
Mir fallen selten Bilder auf, auf denen das Fotografieren von Personen von hinten gerechtfertigt erscheint. Die einfachste Täuschung, der man leicht erliegt, ist die oben unter "Körperhaltung" beschriebene: die stilvolle Haltung beim Gehen ist schnell eingefangen. Und sie wirkt auch von hinten. Man täuscht sich schnell über die Qualität seines Bildes, weil es durch eine gut getroffene, gehende Person scheinbar einen gewissen Style gewinnt.            
Aber es kommt noch mehr dazu. Tatsächlich strahlen Personen von hinten oft etwas geheimnisvolles aus. Wir sehen nicht ihr Gesicht, wir können sie nicht erkennen. Wir sehen nicht ihre Mimik, die etwas über sie selbst, oder ihr Vorhaben, verraten würde. Und dabei bewegen sie sich oft zielstrebig irgendwo hin, haben irgendein Ziel. Dieses bleibt aber ihr Geheimnis.            
Viele dieser Bilder erzeugen auch eine gewissen Ruhe. Es kann sein, dass ein Mensch, der uns nicht sieht, sondern den nur wir beobachten, eine Mischung aus Spannung, aber gleichzeitig auch Entspannung erzeugt, da er ja für uns keinerlei Gefahr oder Anstrengung bedeutet.            
Im Übrigen ist es schlichtweg schwieriger, Personen zu fotografieren, die wahrnehmen, dass sie fotografiert werden, als Personen die fotografiert werden, ohne dass sie es merken. Personen, die den Fotografen sehen, blicken ja oft in Richtung der Kamera. Damit wirken sie aber nicht mehr beiläufig fotografiert. Sie brechen damit oft die Szene auf.            
Der Straßenfotograf wähnt sich ja sehr gerne in der Rolle des Beobachters. Da ist es meistens einfacher, selbst unbeobachtet zu sein. Vor allem sollen viele Straßenszenen ungestellt wirken. Protagonisten, die vom Fotografieren nichts mitbekommen, sind dabei natürlich angenehmer. Hat der Protagonist erst einmal Kontakt mit der Kamera aufgenommen, ist der Fotograf Teil des Bildes geworden. (Wir werden ein hübsches Beispiel weiter unten im Teil "Zwei Bilder in einem" sehen.)            
Selbstverständlich erspart man sich generell bei Personen, die man heimlich fotografiert, egal ob von hinten oder von vorne, auch die Konflikte mit ihnen, wenn es ihnen nicht recht ist, fotografiert zu werden.            
Von daher hat das Fotografieren von Personen, die es nicht merken, immer diesen einen Makel: es ist zu einfach.            

Aber zurück zum Inhaltlichen. Warum auch immer also gerne Menschen von hinten fotografiert werden, hier wird Gefahr gelaufen, ein Thema zu erzeugen, einen Inhalt anzudeuten, der wahrscheinlich gar nicht vorhanden ist.            
Der Fotograf kennt bei einem fremden, gehenden Menschen dieses Thema, diesen Inhalt selbst nicht. Er stellt ihn aber in den Raum. Denn ein Bild von einer Person, die kein Gesicht hat, die keine Ziele hat, keine Gedanken, ist selten das Ziel eines Fotografen, im Gegenteil, die fotografierten Personen sollen ihre Geschichte erzählen, den Inhalt transportieren. Diese Funktion erfüllen sie z.B. bei den schon vorher angesprochenen Bildern, die eigentlich nur Stadtarchitektur zum Inhalt haben.            
Es sollte aber niemand sein inhaltsleeres Bild schönreden, indem er sagt, es solle eben die Fantasie der Betrachter anregen, oder man wolle bewusst etwas offen lassen, usw, usf. Aber das wird sehr gerne gemacht. Aber nur eine gehende Person einem Bild hinzuzufügen, um Inhalt zur erzeugen, ist nicht genug.            
 

H.Schiele: "Street"



Bild 124 ist ein solches Beispiel. Man findet sie zu hunderttausenden im Internet, und natürlich sind auch ansprechendere dabei. Aber der Punkt ist und bleibt der Inhalt. Welcher Inhalt jeweils in einem Bild zu finden ist, ist sicherlich nicht einfach festzustellen. Denn es gibt die Aussage des Fotografen, und es gibt die Interpretation des Betrachters.            
Ein Hobbyfotograf, der seine Bilder für sich selber macht, hat natürlich jedes Recht, in seinen Bilder zu sehen, was er will. Wagt man sich aber an die Öffentlichkeit, wird schon eher erwartet, dass man etwas Verständliches zu sagen hat. Das Bild 124 habe ich ja selbst gemacht, ich denke, hauptsächlich weil vor Ort eine hübsche Lichtstimmung zu sehen war. Wahrscheinlich habe ich mich erst über den Mann gefreut, der das Bild vielleicht noch hätte bereichern können. Am Ende ist trotzdem eines der vielen "Null"-Bilder entstanden, ohne Inhalt.            
Ein kleiner Lichtblick: wir sehen hinten, noch zu weit weg, einen anderen Mann auf unseren zukommen. Daran noch weiter gearbeitet, wer weiß? Weiter zum nächsten Bild.             

Positives Beispiel, gleiche Straße, gleicher Tag, wie im vorherigen Bild 124: Was mögen diese beiden Frauen machen, wenn sie sich in der Mitte treffen? Werden sie sich überhaupt treffen? Worauf wartet die Frau im Vordergrund, während die Frau am anderen Ende der Straße bereits losgegangen ist? Warum hält sie mitten auf der Straße inne? Oder täuscht der Eindruck? Das Bild regt die Fantasie an. Aber dies wird stärker durch den vorhandenen Inhalt hervorgerufen, weniger durch nicht-vorhandenen Inhalt. Es ist nicht lediglich eine von hinten fotografierte Person im Bild. Es ist eine zweite Person im Bild, mit der die erste interagiert. Bildlich interagieren sie ganz offensichtlich, in der Wirklichkeit vermutlich nicht. Aber hier bekommt die Fantasie mehr Futter. Und es erscheint glaubwürdiger, dass der Fotograf das Bild dafür geschossen und ausgesucht hat, und selber in seiner Fantasie eine Geschichte darin sehen kann. Bild 124 oben ist dahingehend eher ein hingeworfenes Bild, welches in der Hoffnung hingeworfen wird, irgendwer möge schon etwas darin sehen.             
 

H.Schiele: "Street"



In Bild 118 hat die Person, die von hinten gezeigt wird, den entsprechenden dramaturgischen Platz im Bild, obwohl durch die Vignettierung die andere in den Mittelpunkt gesetzt wird. Erinnert sich jemand an den weiblichen Killer Loretta Salino ("Der Clou"/ "The Sting"), wie sie am Ende der Gasse auftaucht? Aber vielleicht wartet auch die Frau vorne auf die hintere? Eine eigene Rolle hat auch sie. Sie ist es, die aus dem Dunkel heraustritt. Wir werden es nicht erfahren. Aber hier hat der Fotograf Ansätze für konkrete Ideen. Die angedeuteten Elemente werden durch fotografische Tricks herausgearbeitet und dann dem Betrachter zur Verfügung gestellt. Trotzdem das Geschehen letztlich offen bleibt, wurde es aber nicht einfach dem Zufall überlassen.             


## Alte Menschen

Auf dieser Bank haben wir einen alten Mann. Einen alten Mann, in dessen Inneren ein jüngerer Mann zu sehen ist. Auch im Spiegelungen-Teil gab es in Bild 030 ein "Mensch-im-Mensch"- Beispiel (mit altem Mann, jungem Mann und Mädchen). Und so kann man sich überlegen, welchen Mensch man in welchem spiegeln will, und vor allem warum. Es steckt sowohl in einem alten Mann ein junger, als seine Vergangenheit, als auch im jungen Mann bereits ein alter angelegt ist.            
 

H.Schiele: "Street"



Bild 022 ist eigentlich eines der vielen Spiegelbilder. Trotzdem schien es mir passender hier im Teil über alte Menschen.            
Denn mir fällt hier folgendes auf: mein erstes Empfinden sagt mir, dass der alte Mann das Bild dominiert. Beim zweiten Daraufsehen muss ich feststellen, dass es meine eigenen, Symbolik-überladenen, Assoziationen sind, die das Bild dominieren. Dadurch wird mein Blick direkt auf den alten Mann gelenkt. Es ist aber in diesem Bild völlig unklar, worum es eigentlich geht. Soll einer der beiden Männer das Leitmotiv sein? Oder geht es um das Haus im Hintergrund? Oder ist der Spiegelbild-Effekt hier das Thema?            
Anstatt über diese Fragen nachzudenken, denke ich darüber nach, was mir der alte Mann alles sagen soll oder kann. Er ist es, was mir ins Auge springt. Denn alte Menschen in Fotografien haben ihre Attribute, die sie mit sich tragen, und die der Fotograf vermeintlich nur noch einsammeln muss. Soweit verhält es sich damit wie auch mit den Kindern.            
Bei alten Menschen kommt aber noch anderes hinzu. Bei ihnen sehen wir vor allem die Lebenserfahrung. Am liebsten sehen wir diese plakativ in Menschen mit möglichst vielen Falten, die möglichst stark "vom Leben gezeichnet" erscheinen. Auch hier sammeln sich Millionen von alten, vom Leben gezeichneten, Menschen in den Street-Portfolios auf den Street-Portalen im Internet. Sehr gerne sehen wir nicht nur alte Menschen, sondern arme alte Menschen. Das Thema Altersarmut scheint eine Urangst von uns zu sein. Immer wollen wir es irgendwo sehen. Damit verbunden ist auch das Thema Einsamkeit. Auch dieses zeigen wir gerne mit alten Menschen. Natürlich, im Alter ist es ja auch am häufigsten anzutreffen. Enthalten ist in der Regel auch die Anklage. Die Anklage, dass "wir" mit alten Menschen nicht angemessen umgehen.            
Auf der anderen Seite begeistert uns aber auch die Darstellung von Lebensfreude und Jugendlichkeit, wenn sie uns in alten Menschen begegnet, z.B. bei Tätigkeiten, die wir eher mit Jugend verbinden: Tanz, Sport, Sexualität, usw. Diese finden wir außergewöhnlich für alte Menschen, regelrecht sensationell, um in der Sprache der Reporter zu bleiben. Deshalb halten wir sie für wert, abgebildet zu werden. Wir erleben die klassische Arbeit mit Gegensätzen.            
Und auch hier ist es eine Arbeit mit Klischees.            
Aber ob wir die Klischees nur nutzen, oder ob wir sie wirklich hinterfragen, das muss dann wieder jeder selbst wissen.            

Ein ausdrucksstarkes Bild ist Bild ist Bild 005. Man durchsuche es auf Klischees über die Themen Alter, Einsamkeit, Kälte, Kirche und Tod. Und dann muss man sich fragen, ob "Ausdrucksstärke" dabei im noch positiven Sinne wirkt. Zweifelsfrei ist sie hier vorhanden, aber will ich sie so haben?            
Innerhalb dieser Kontexte sehen wir auch eins der seltenen Beispiele, in denen die "Person von hinten" tatsächlich mit in die Bildsprache gehört, unabhängig davon, dass dieses Bild hier als Negativbeispiel dient. Die obligatorische Standard-Körperhaltung ist auch vorhanden.            
Ob die fotografierte Person dann noch ein Interesse hätte, in diesem Bild "aufzutreten", ist schon nicht mehr fraglich. Natürlich würde das nicht so sein.            
 

H.Schiele: "Street"



## Zwei Bilder in einem

"Zwei Bilder in einem" ist eine der beliebtesten Varianten in der Straßenfotografie. Ich weiß nicht, welcher Fachbegriff dafür der richtige ist. Im Prinzip ist es einfach: ein oder mehrere Motive bilden den Inhalt und den Kontext des Bildes, und ein Teil bricht unerwartet aus diesem Kontext aus. In der Regel sind diese Szenen Zufallstreffer.            
Im Bild 112 feiern die Karnevalisten den Karneval oben auf ihrem Wagen und werfen ihre Blumen und Bonbons herunter, usw. Am rechten Bildrand erwischen wir eine Mitfahrerin, die eigentlich dieselbe Rolle hat, aber gerade dabei ist etwas anderes zu tun, nämlich selbst Fotos zu machen.            
 

H.Schiele: "Street"



Stimmig wäre natürlich, sie würde auch Kamelle werfen. Aber stimmig hin oder her, man hätte dann natürlich ein völlig unbedeutendes Bild. So aber hat man den vermeintlich "besonderen" Augenblick eingefangen, indem etwas unerwartetes passierte. Schnell überinterpretiert man dann die Bedeutung des Ganzen. Deswegen gibt es auch hier wieder millionenfach Bilder, die in dieses Schema passen. Es wird geglaubt, man könnte Wunder welche Aussagen damit verdeutlichen, z.B. dass nichts so ist wie es scheint, dass aus Routinen ausgebrochen wird, dass oft der äußere Schein eben nur der ebensolche ist, und wie menschlich dies alles ist. Der Fotograf hat den Eindruck, "hinter die Kulissen", die äußere Fassade, hinter das offensichtliche, das oberflächliche, geblickt zu haben, und beginnt sein Werk zu überschätzen.            
Natürlich bin ich auch immer auf der Suche nach dem "besonderen Augenblick", in dem ein Schlaglicht hinter die Kulissen und Routinen geworfen werden kann. Und natürlich liegt die Essenz der Straßenfotografiererei darin, erwähnenswertes im alltäglichen zu finden. Aber ob ein Stilmittel bereits seit Jahrzehnten über-verwendet wurde, muss der Fotograf sich auch fragen.            
Aber noch mehr muss er sich fragen.            
Wir haben ein anderes Beispiel, auch aus dem Karneval: Bild 006. Hier ist der Mann rechts auch nicht in dem Film, indem die Szene spielt. Es sieht lustig aus, wenn die Protagonisten einer Szene sich nicht einig sind, und einer aus der Rolle ausbricht. Die Theaterregisseure sagen immer, der Schauspieler sei "nicht in der Rolle". In meinem Bild allerdings wissen die Protagonisten ja gar nicht, dass sie in meinem Stück auftreten. Von daher sind solche Schnappschüsse auch respektlos: ich manövriere die Personen ohne ihr Wissen in meine Szene, und mache sie dann lächerlich, weil sie Fehler dabei machen.            
 

H.Schiele: "Street"



Jetzt bleiben wir beim Karneval, obwohl natürlich dies alles nicht auf Karneval beschränkt gilt, und nehmen das Bild 075:            
 

H.Schiele: "Street"



Hier sehe ich eine andere Situation: zuerst einmal haben wir hier "drei Bilder in einem", um bei dieser Umschreibung zu bleiben, denn die Freundin neben ihm hat noch ein drittes Thema, welches sie recht angsterfüllt beobachtet. Möglicherweise ziehen Regenwolken auf oder es drohen Kamelle geflogen zu kommen, wir wissen es nicht. Das ist aber gar nicht entscheidend.            
Entscheidend ist etwas anderes: Der Karnevalszug ist in vollem Gange, die Spannung ist regelrecht zu spüren, Bewegungsunschärfe und die Blicke der anderen in eine bestimmte Richtung verrichten hier ihr Werk. Der Junge bricht aus dem Kontext aus, er hat schlicht die Kamera entdeckt und wird dadurch abgelenkt, herausgerissen. Er scheint den Karneval völlig vergessen zu haben. Damit wäre er bereits das Bild im Bild, denn die Szene ist die Menge beim Karnevalszug. Er hat allerdings, und das ändert alles, gleich das Bild samt Inhalt komplett gekapert, und ist jetzt selbst das Motiv. Nun ist es am Rest des Bildes, sich ihm unterzuordnen. Die Gefahr, dass er beim Ausbruch aus dem Kontext einen dummen Eindruck macht, ist damit gebannt.            
Dieser Unterschied macht die Szene völlig anders, als die beiden Beispiele vorher. Und der Aspekt ist für die Straßenfotografie wirklich wichtig: Auf den beiden anderen Bildern wird, wie beschrieben, ein Kontext hergestellt, in denen die Protagonisten nicht mehr Herren über ihre Lage sind, weil der Fotograf bestimmt, was zum Kontext gehört und was nicht. Dieser Vorteil wird genutzt um die Protagonisten zu kompromittieren. Der Mann auf dem einen Wagen lacht, das Mädchen auf dem anderen fotografiert mit dem Smartphone... nichts ungewöhnliches eigentlich. Und trotzdem machen sie damit jeweils aus meinem Bild eine Komödie, ohne dass sie es wollten. Ist denn das Straßenfotografie?            
Ja, ist es wohl. Wir stoßen da wieder an einen großen Grenzbereich. Aber dem Gefühl für die künstlerische Qualität des eigenen Werkes kommt dabei die große Bedeutung zu. Man muss alle diese Ingredienzen selbst beurteilen - selbst beurteilen, bevor es andere tun.            
 


## Respekt

Eine dieser Ingredienzen kam in diesem Teil schon mehrmals unausgesprochen zur Sprache, das ist die Bedeutung des Respekts. Diesem fehlt noch die nötige Klarheit, und es soll ja keine Verunsicherung geschaffen werden.            
Wir haben über Respekt gesprochen, meistens über Respekt den fotografierten Personen gegenüber. Außerdem haben wir angedeutet, dass Respekt auch gegenüber der Historie der Fotografie, der Straßenfotografie angemessen ist. Aber auch Respekt gegenüber dem Publikum, denjenigen die sich unsere Bilder ansehen, denen gegenüber wir uns äußern, ist vorhanden.            
In diesen Zusammenhängen wird der Respekt immer eine variable Größe sein, die im Hinterkopf abgemessen wird, und deren Zuteilung wir jeweils vornehmen, aus einer respektvollen Grundhaltung heraus. Soweit ähnelt es unserer normalen Einstellung zum Leben und dem Umgang mit anderen.            
Die spannende Frage ist dabei aber noch nicht beantwortet: Dient es dem Kunstwerk? Ich, als Fotograf möchte ein bestmögliches Werk schaffen, das ist mein oberstes Ziel, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Dazu gehören finanzielle Fragen, dazu gehört die Technik, dazu gehöre ich selber, mein Image, mein Renommée, meine Gesundheit. Wenn ich vom Baum falle, während ich das bestmögliche Bild eines Themas mache, meine Kamera ins Wasser fällt oder ich eine Reise finanzieren muss - alles egal, das Endergebnis ist das Ziel.            
Wenn ich nun Respekt haben soll meinem Motiv, meiner Umgebung, gegenüber, kann ich mich künstlerisch vielleicht nicht in vollem Umfang ausleben, muss Abstriche machen, schmälere mein Potential beim Unterfangen, das bestmögliche Ziel zu erreichen.            
Überhaupt widerspricht eine solche Auffassung von Respekt vielem, was gerade Bestandteile von Kunst sind, wie ich sie auch selbst angesprochen habe. Provokation, Mut zur Erneuerung - um nicht gleich von "Respektlosigkeit" zu sprechen, sind eben unerlässlich um Dinge in Frage zu stellen.            
Gerade ein junger Künstler, ein junger Fotograf, hat ja häufig noch gar nicht viel mehr aufzubieten, als Respektlosigkeit, wenn es an Erfahrung und umfangreicher Sachkenntnis noch mangelt.            
All das können wir nun nicht opfern, aus Respekt gegenüber einer abgebildeten Person, oder sogar gegenüber irgendeiner eher esoterischen Idee von mitschwingender Historie und göttlicher Schaffenskraft.            
Die Frage ist also nur, ob Respekt unser Bild besser macht, oder nicht. Macht er unser Bild besser, dann ist Respekt angebracht. Würde er uns hindern, unser Potential auszuschöpfen, dann ist er problematisch.            
Eine Faustformel: respektvoller Umgang ist anstrengender, anspruchsvoller, schwieriger, erfordert ein größeres Maß an  Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Respektlosikkeit dagegen ist eigentlich nicht schwer. Der Begriff "Egoismus" fällt einem dazu ein. Man muss nur draufhalten, und möglicherweise die Konsequenzen ertragen.            
Provokation, z.B, ist nicht automatisch gleich Respektlosigkeit. Auch Provokation erfordert Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Und Provokation erfordert Auseinandersetzung mit dem Thema.            
Wer also Respektlosigkeit einzusetzen gedenkt, um sich das Leben einfacher zu machen, der ist nicht auf dem Weg zu großen Kunstwerken.            

Da sich diese Frage nicht reduziert auf den Umgang mit Menschen und ein wenig Stadtarchitektur, können wir in ein weiteres großes Feld überleiten. Dieses behandelt den Umgang mit Kunstwerken, die andere geschaffen haben, die ich aber, dank meiner Kamera, sehr einfach kopieren kann.            
 


## Abfotografieren von Kunstwerken

H.Schiele: "Street"



Der Umgang mit von anderen erschaffenen Kunstwerken ist schwierig. Sie erscheinen in unseren Bildern. Manchmal erscheinen sie als Kulisse für unser Motiv. Manchmal erscheinen sie als Bestandteil eines Motivs, der mit ihm zusammen erst die Aussage eines Bildes ermöglicht. Und ansonsten kann das Kunstwerk selbst das Motiv sein. Und es muss sich bei diesen Kunstwerken nicht einmal um Gemälde und Statuen handeln, an die wir sicher zuerst denken.            
Inwieweit also z.B. auch eine Straße, Brücke, Straßenlaterne, oder das Ensemble aus diesen, ein architektonisches oder städtebauliches Kunstwerk ist, wäre also auch noch zu klären. Es wäre jede kulturelle Errungenschaft ein Kunstwerk, und meine Fotografien wären voll damit.            

 

H.Schiele: "Street"


Wir haben Bild 065 schon gesehen, im zweiten Teil. Betrachten wir dieses nochmals, und stellen fest, dass es ein genau solches architektonisch, städteplanerisches Kunstwerk zeigt. Dabei hatte ich als Fotograf sogar den Eindruck, erst ich hätte diese Ästhetik freigelegt.            
Sicherlich hat kein Architekt dieses Nebeneinander von geschwungenen Bogenformen geplant und verwirklicht. Sicherlich ist die untere Balustrade neueren Datums als die Brücke oben. Oder vielleicht doch nicht?            
Wo damit beginnen, und wo damit aufhören? Selbst der Bus ist ja ein Ergebnis kreativen Schaffens, ein technisches Meisterwerk, lange Zeit entworfen, verworfen - geplant, bemalt, verwirklicht. Jedes Haus, das wir im Hintergrund eines Straßenfotos sehen, ist eine abfotografierte kreative Leistung eines anderen.            
Wir können uns nur sensibel machen, für diese Thema, und dann schauen, wie weit es unseren Umgang beeinflusst. Ich persönlich würde sagen, es gibt diesen einen Punkt, an dem ein Fotograf fast gar keine gestalterische Leistung mehr erbracht hat, weil der Inhalt seines Bildes hauptsächlich die gestalterische Leistung eines anderen abbildet. Und er trotzdem die Qualität seines Bildes hoch einschätzt, weil es gut aussieht.            
Dieser Punkt befindet sich aber in einer großen Grauzone, in der man letztlich selbst beurteilen muss, wo man steht. Also befassen wir uns in diesem Teil einfach ein wenig damit.            

Kunstwerke, von denen ich Bilder mache, oder die ich in Bilder einbeziehe, gibt es in vielen Kategorien. Der Umgang mit ihnen ist jeweils unterschiedlich. Die Liste ist endlos. Ich habe gerade schon Architektur und Städtebau genannt. Wir zählen noch weitere auf:


- das Museum. Hier hängt das "offizielle" Kunstwerk. Da weiß man, worum es sich handelt, und manchmal darf man es nicht einmal fotografieren.

- die Galerie. Hier hängt oder steht das Kunstwerk, dass noch nicht so ganz "offizielles" Kunstwerk ist, sondern erst noch zu diesem werden soll. Es wurde vom Galeristen ausgesucht. Davon Bilder zu machen ist in der Regel kein Problem

- die Ausstellungen, wo nur noch der Aussteller, der Organisator oder sogar nur noch der Künstler selbst sein Werk für schützenswerte und kommerziell verwertbare Kunst hält.

- das Schaufenster, indem kunstvoll gewöhnliche Dinge zur Schau gestellt werden, Produkte.

- danach kommt der Markt, als "niedere" Form des Schaufensters. Dort gibt es Obst, Fleisch, Fisch, aber auch Textilien, usw. Attraktiv angerichtet werden die Dinge dort aber auch.

- auf einer ganz anderen Ebene befindet sich das "Bauwerk", wie oben schon besprochen. Denn das ist ja auch Kunst. Und wir sehen es überall. Wie geht Architektur-Fotografie mit Straßenfotografie? Bzw. wann ist ersteres Straßenfotografie und wann eben nicht?

- Teil der Kategorie "Bauwerk" ist auch das Innere eines Bauwerks. Oftmals betrifft das nicht mehr die Architektur, sondern es ist nur noch die...

     - ...Einrichtung. Oft kunstvoll gemacht, und oft auch noch mit weiteren Kunstgegenständen. Dazu gehören z.B. öffentliche Gebäude, aber auch Bars, Restaurants und vieles andere mehr. Aber auch Privatwohnungen gehören dazu. Jemand hat sie eingerichtet. Und das wird ja mit viel Mühe gemacht, oft mit sehenswertem Ergebnis. 

- Es gibt die Kunst als Live-Auftritt, das Theater, das Konzert, Bühnenbilder, alles in der Richtung.            

Also, kurz: immer wo sich jemand bemüht hat, etwas außergewöhnliches zu präsentieren, oder etwas gewöhnliches auf außergewöhnliche Art und Weise zu präsentieren, kann ich mich fragen, inwieweit ich nur dessen Werk stehle, wenn ich es für mein Bild verwende. Es gibt dabei nicht nur die fließenden Übergänge, sondern generell unterschiedliche Richtungen. Ich kann ja am einen Ende lediglich an der Leistung anderer schmarotzen, am anderen Ende aber behaupten, dass ich des anderen Kunstwerk zeige, weil es so gut ist, oder es sogar noch im besseren Licht zeige, so dass es von der Darstellung in meinem Bild profitiert. An diesem Ende nähern wir uns damit der professionellen Produktfotografie. Dort steht das Produkt, das Objekt, das Werk des anderen im Vordergrund. Das ist eine Welt, in der ganz anderes transportiert wird, als in der Straßenfotografie. Es geht wirklich nur um das Objekt, das Produkt und seine Vermarktung.            
Ansonsten, vor allem bei der halb-spontanen Straßenfotografie, ist es immer schwierig, ein Objekt völlig neutral wiederzugeben. Das wollen wir ja auch gar nicht, es wäre dann ja keine Straßenfotografie mehr.            

Wir nehmen Bild 133, ein typisches Street-Bild.            
 

H.Schiele: "Street"



Welche Rolle spielt hier das abgebildete Kunstwerk, das unschwer im Hintergrund zu erkennen ist?            
Alleine die Formulierung "Hintergrund" ist schon bezeichnend. Eigentlich befindet sich das Kunstwerk formatfüllend im Vordergrund, in der Bildmitte sowie auch im Hintergrund. Offensichtlich befindet sich trotzdem das eigentliche Motiv noch weiter im Vordergrund, so dass das mit-abgebildete Kunstwerk in den Hintergrund rückt.            
Überhaupt ist keinerlei Bedeutung dieses riesigen Kunstwerkes für das Street-Bild zu erkennen. Die beiden Personen, betrachten etwas völlig anderes, und man sieht, dass das, was sie betrachten sehr beeindruckend und verstörend sein muss.            
Was macht das mit dem großen Kunstwerk im Hintergrund? Trotz seiner riesigen Ausmaße droht es in diesem Bildkontext in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Spätestens mit der Auswahl des Bildes und des Ausschnitts hat der Fotograf, die Fotografin, dieses riesige Kunstwerk auf ein Minimum an Bedeutung zurechtgestutzt. Warum? Darf man das? Soll man das? Ist das nicht respektlos?            
Aber würde im Hintergrund ein Haus stehen, wäre es nicht dem Architekten des Hauses gegenüber dann auch respektlos, sein Werk soweit in den Hintergrund zu rücken. Es als Kulisse für ein ein anderes Motiv zu missbrauchen? Warum sollten diese Regeln nur für einen Künstler gelten, der sein Werk derart exponiert zur Schau stellt? Würde sich der Erschaffer dieses Figurenparks überhaupt abgewertet fühlen, oder würde er sich freuen, dass sein Werk auf diesem Bild mit zu sehen ist? Oder liegt es doch nur im Auge des Betrachters, und das Bild zeigt eigentlich nur die Realität?            
Wir sehen, dass wir das offen lassen müssen.            

Oft setze ich in der Straßenfotografie Objekte und Erscheinungen in einen anderen Kontext. Ich dekonstruiere, ob ich es will oder nicht.            
Damit formuliere ich aber auch einen gewissen künstlerischen Anspruch. Diesem kann ich mich nicht entziehen, spätestens dann, wenn der Betrachter meines Bildes einen Anspruch erkennt, und mein Bild an diesem Anspruch messen wird.            
Ich kann mich nicht einfach auf dem Standpunkt stellen, der künstlerische Anspruch der im Bild entsteht, interessiere mich nicht. Dann verweigere ich mich der Auseinandersetzung. Aber Auseinandersetzung ist immer eine Grundlage von Kunst, gerade hatten wir oben bereits darüber gesprochen. Keine Auseinandersetzung, keine Kunst - ganz einfach. Und ein Bild, welches zwangsläufig einen künstlerischem Anspruch aufgenommen hat, das aber Auseinandersetzung ausschließen möchte? Das sollte der Fotograf erklären können. Sich dem verweigern kann nur der Hobbyist, der für sich selbst Bilder machen darf, wie er möchte.            
Es kommt aber noch weiteres dazu. Umso mehr es meinem Bild an eigener, sehenswerter Ästhetik, oder eben dem künstlerischen Ausdruck mangelt, desto mehr profitiere ich nur noch von der Qualität des vom anderen geschaffenen Werkes, so es in meinem Bild vorkommt. Was also tun? Selbstreflexion und gegebenenfalls Zurückhaltung sind jedenfalls angebracht.            
 

H.Schiele: "Street"



Wir sehen hier in Bild 159 Schaufenster, Produkt, Dekoration, insgesamt ein Kunstwerk auf einem Straßenfoto. Was nun? Es ist keins der Spiegelbild-Effekt-Bilder. Ein Zusammenhang der Dekoration mit dem Haus gegenüber existiert nicht. Der Hintergrund dient nur der Erzeugung eines dunklen Kontrastes gegen das Motiv. Es dient dem Motiv, und das ganze Bild drückt eigentlich nur eine Bewunderung des Werkes aus. Vermutlich würde der Inhaber der Boutique der Darstellung nicht widersprechen. Ob man ein solches Bild nun Straßenfoto nennen will? Wahrscheinlich schon, denn, was für ein Bild ist es denn sonst?            
Wenn wir einen Schritt weiter gehen, wie auf Bild 143, finden wir ein als Fotografie neu konstruiertes Werk. Trotzdem ist diese im Bild angedeutete Person eine Konstruktion aus der von anderen geschaffenen Kirche und der von anderen geschaffenen Schaufensterdekoration. So richtig viel Eigenleistung des Fotografen ist hier nicht zu behaupten. Bestenfalls die stimmige Farbmontage mag ja ganz sehenswert sein.            
 

H.Schiele: "Street"



Derartige Konstruktionen sieht man sehr häufig in der Straßenfotografie, und es ist sehr schwierig, hier eine Grenze zu ziehen, ab der eine Art Unzulässigkeit beginnt. Man könnte hier auf ewig Beispiele heranziehen und diese diskutieren.            

Nehmen wir lieber Bild 155, wir hatten es oben bereits zum Thema Körperhaltung gesehen. Es stammt unübersehbar aus einem Museum. Stünden die Personen genauso auf den Champs Elysèes, wäre es natürlich ein Straßenfoto. Aber einfach austauschbar ist der Inhalt nicht, denn das Bild zeigt die Personen in ihrer Beziehung zur Umgebung. Ja, sie könnten woanders genauso stehen, aber das rechtfertigt nicht die Behauptung, die Bilder an den Wänden und die Architektur der Räumlichkeiten seien ja gar nicht entscheidend für das Bild. In diesem Fall bereichern sie das Bild von den drei Personen, vervollständigen es. Man kann auch nicht behaupten, es sei großartig dekonstruiert. Nein, dieses Bild findet in diesem Museum statt. Zumindest die Verwendung dieser Räumlichkeiten als Kulisse für die Personen, für das Bild, ist offensichtlich.            
 

H.Schiele: "Street"



Etwas gänzlich anderes ist es bei diesem Abbild eines historischen Gemäldes auf Bild 149.             
 

H.Schiele: "Street"



Von all den spaßigen Aussagen, die man in dieser Momentaufnahme finden könnte abgesehen, man beginne nur einmal mit Geschlechterrollen-Klischees, stellt sich hier viel weniger die Frage nach dem Maler, dessen Rechten und Empfindungen bei der Zurschaustellung seines Werks.            
Ein solch historisches Gemälde weckt bei uns den Eindruck, einem zeit- und kunsthistorischem Dokument gegenüber zu stehen, und weniger einem schützenswerten Produkt eines schöpferischen Prozesses. Auch das Museum selbst, wo wir das Werk gefunden haben, hat den Künstler weder nach seinem Einverständnis gefragt, noch ihn angemessen entlohnt. Von daher sehen wir uns als nur weiterer Weiterverwerter des Werkes nicht direkt in der Verantwortung. Es kommt bei diesem Bild noch dazu, dass das Gemälde herausgelöst wurde aus dem räumlichen, innenarchitektonischen Kontext des Museums, den man sonst noch als künstlerischen Wert anerkennen könnte.            
Selbstverständlich ist dieses Gemälde ein Kunstwerk eines anderen, und selbstverständlich ist es Bestandteil der Bildaussage, was auch immer diese sein möge. Die Überlegungen zum Ideen- und Kulissenklau greifen hier aber kaum.            

Es ist Zeit für eine weitere Sicht auf die Dinge. Wie ist es z.B. mit dem Kölner Dom oder dem Eiffelturm im Hintergrund? Sie sind ja aufgrund ihrer Bekanntheit weniger architektonische Meisterwerke, als eher Wahrzeichen der Stadt. Bei Fotos von diesen, stellt sich für den Betrachter nicht die Frage, ob hier ein Produkt künstlerischer Schaffenskraft eines anderen ins Bild einbezogen wurde. Es ist völlig offensichtlich. Aber bei Wahrzeichen von solch überragender Bedeutung gehen wir davon aus, dass es sich um Allgemeingut handelt.            
Hier findet sich aber noch eine andere Schwierigkeit, denn gerade solche Wahrzeichen landen selten zufällig in meinem Bild.             
Mit dem Kölner Dom im Hintergrund mache ich aus meinem Bild ein "Köln-Bild", ein "Paris-Bild", wenn es der Eiffelturm ist.            
Ich kann als Fotograf, wenn ich in Köln fotografiere, nicht behaupten, mir wäre verborgen geblieben, dass es bereits viele Millionen "Köln-Bilder" gibt. Mein neues Köln-Bild stelle ich, sobald ich den Auslöser drücke, in eine Reihe mit diesen. Ein Köln-Bild mit Dom, vor allem, wenn es eine Straßenfotografie ist, zeigt das, was viele andere auch schon gezeigt haben. Ich treffe eine Aussage: "Hier ist mein Straßenfoto. Es zeigt etwas sehenswertes, das etwas über das Stadtleben aussagt, in meiner Interpretation. Es ist ein Kunstwerk, und da ich den Dom mit in den Blick nehme, ist es bewusst markiert als Szene aus Köln." Warum?            
Wer ein solches Dom-Bild macht, sagt in der Regel in künstlerischer Hinsicht "Ich erfasse, beleuchte hiermit auch das Thema Köln". Und so ist es mit vielen bekannten Wahrzeichen. Mit dem Reichstagsgebäude nehme ich auch das Thema Politik in mein Bild, mit dem Eiffelturm das Thema Paris und mit Hochhäusern in Hong-Kong die Themen Fernost, China, usw.            
Das ist ein hoher Anspruch. Wird man diesem nicht gerecht, dann hat man statt Kunst Kitsch oder ein Touristenfoto mit einer Stadtansicht gemacht.            

Sehr schwer für mich. Ich hatte gelegentlich die Idee, wenn ich den Kölner Dom im Bild hatte, ihn z.B. durch eine größere Distanz als Symbol wenigstens zu entkräften (Bild 072). Aber auch das ist schwierig. Die Betrachter finden ihn überall. Ist der Kölner Dom im Bild, ist er im Bild. Mit allen Konsequenzen für den Inhalt des Bildes.            
 

H.Schiele: "Street"



Als ein anderer Kontext fiel mir auf, dass häufig die Fahrt, die Reise, in die betreffende Stadt, und sei sie nur aus den Vororten, natürlich gerne mit den Wahrzeichen symbolisiert wird, weil man sie oft von weitem schon sehen kann. Das passt zu Bild 108, auch wenn man auf diesem Bild bereits sehr nah dran ist, am Dom.            
Man kann die Erscheinungen und die Interpretationen der Wahrzeichen durchaus variieren. Sie ganz zu neutralisieren ist dagegen kaum möglich.            
Der Dom wird dort sehr prominent herausgestellt. Allerdings auf eine etwas untypische Art und Weise, da das Rhein-Panorama, das auf den Postkartenfotos immer dazu gehört, weggenommen wird. Aber hier wird nicht montiert oder retuschiert, sondern der Zaun davor gestellt. Es entsteht auf der oberen Hälfte ein Bild, das nichts als den Dom enthält. Es ist keins der kommerziellen Köln-Bilder, hat dementsprechend Raum für andere Interpretationen, und passt deswegen gut auf den Eingangsgedanken mit der Einfahrt nach Köln.            
Wir haben hier eine Art Dekonstruktion. Wir nehmen das architektonische Kunstwerk mitsamt seiner Bedeutung und bauen damit ein neues Bild, das in seiner Aussage noch offen ist.            
 

H.Schiele: "Street"



 

H.Schiele: "Street"



In diesem Karnevalsbild ist der Dom nicht uninteressant, weil das Karnevalsbild nicht als Symbol für Köln oder den Karneval erkennbar ist. Alles, was auf dem Bild zu sehen ist, erscheint hier wirklich beiläufig, auch der Dom. Bilder vom Kölner Dom mit nur einem Turm werden selten gezeigt. Das Weglassen eines Turms des Kölner Doms kommt scheinbar schon einer Dekonstruktion gleich.            
Das Bild ragt ein wenig heraus, weil es trotz Dom und Karneval kaum den üblichen Köln-Folklore-Eindruck vermittelt. Die üblichen Karnevals-Werbefotos aus der Presse sehen anders aus. Man kann auf diese Art und Weise zumindest beginnen, einen neuen Zugang zum Wahrzeichen-Motiv zu suchen.            
Die Frage, ob es sich dabei noch um den Umgang mit Kunstwerken handelt, spielt hier keine Rolle mehr.            

Eine weitere Dombild-Facette fällt mir dabei auf. Klingt paradox, aber es kann ein Stilmittel sein, den Dom wegzulassen: in einem Kölner Rhein-Panorama entsteht durch das Nicht-Zeigen des Doms nun auch wieder ein eigener Charakter. Denn normalerweise gibt es kaum Köln-Panoramen ohne Dom. Auf Bild 80 wähnt man sich direkt in einer ganz anderen Stadt. Das Bild könnte den Bodensee zeigen, oder eine Stadt in den USA oder alles mögliche sonst. Nur auf Köln würde man nicht kommen.            
 

H.Schiele: "Street"



Unabhängig vom Kunstwerke-Thema: das Thema "Weglassen" wäre auch noch eine eigene Abhandlung wert, scheint mir. Ich selbst habe dazu aber keine weiteren Ideen.

 

Urlaubsbilder

H.Schiele: "Street"



Was macht eine Urlaubsszene zur Straßenszene?            
Das Eingangsbild, Bild 056, ist natürlich ein Strandbild, kein Straßenbild. Aber wie kommt man dann auf die Frage, ob es ein Straßenbild sein könnte? Ist es nötig, hier voneinander abzugrenzen?            
Zumindest zeigt Bild 056 ein "Geschehen". Was auch immer alles hier zu sehen ist, Herumsitzen, Herumliegen, Fußball, Gastronomie... Straßenbilder zeigen auch oft ein "Geschehen", eigentlich sogar genau das gleiche. Ist es denn auch "Street Photography", das Geschehen am Strand abzubilden? Wäre es noch mehr "Street Photography", wäre das Bild auf der Copacabana in Rio aufgenommen? Vielleicht, denn die Copacabana akzeptieren wir viel eher als Teil von Rio, als Teil der Stadt. Ebenso Miami Beach, Nizza oder Corny Island. Da ist die Stadt nicht weit weg. Aber genau das scheint auf Bild 056 auch der Fall zu sein.            
Die Strände, an denen Menschen nach Büroschluss vor dem Nachhausegehen im Sommer liegen, gelten als Teil des Stadtbilds. Aber ein reiner Urlaubsort soll dann nicht für eine Kulisse für die Straßenfotografie gelten? Es wird schwierig dafür zu argumentieren. Es sind vielleicht doch nur das Image, die klingenden Namen, Rio, Miami, New York, die Historie, die uns ablenken. Auch an vielen Flussufern in vielen Städten gibt es im Sommer, oder sogar ganzjährig, Sandstrände. Mitten in den Städten. Und wir erinnern uns: niemand hatte gesagt, dass Straßenfotografie per se in die Großstadt gehört, auch wenn sie dort häufiger auf Motivsuche ist, als auf dem Land.            
Wir wollen bei der Straßenfotografie ein gutes Bild machen, und wir wollen dieses Bild möglichst im Kontext mit dem "draußen", mit der Straße machen. Und ja, es gehört in der Regel in die Stadt. Die Straßenfotografie zeigt urbanes Leben. Das heißt nicht, das es keine Ausnahmen geben kann. Aber an die Straßenfotografie richtet sich die Erwartung, dass Stadtbilder gemacht werden. Es ist ähnlich mit den Straßenkindern. Es gibt sie auch in der Provinz, so wie es dort ja auch Straßen gibt. In der Regel verortet man sie aber die "Street Photography" in den städtischen Zusammenhang.            
Dem entgegen bedeutet aber Straßenfotografie nicht, "auf der Straße" ein schlechtes Bild zu machen, und dieses ist dann "Street Photography", weil es auf der Straße entstand.            
Denn nur ein gutes Bild ist "Street Photography".            

Alles in allem halte ich Bild 056 für legitim, auch wenn man es "Urlaubsbild" nennen könnte. Oder Postkartenmotiv. Aber alleine... wer weiß denn, ob der Fotograf Urlaub hat. Die Menschen auf dem Strand mögen ihn haben, aber jeder Einheimische könnte ja hier seine Stadt fotografiert haben. Wir können ja auch nicht ein- und dasselbe Straßenbild aus Paris "Street Photography" nennen, oder "Urlaubsfoto", je nachdem welchen Wohnort oder Beruf derjenige hat, der es aufgenommen hat.            

Jetzt haben wir viel herum-relativiert, gewendet und Überlegungen angestellt. Jetzt können wir konkreter werden und noch näher herangehen.            
Wir haben auf Bild 049 ein typisches Street-Motiv: einen etwas skurrilen Typ, der etwas beobachtet. Wir sehen nicht, was es ist, aber offensichtlich blickt die Frau neben ihm auf dasselbe Ereignis. Skurril ist alleine schon die Straßenkleidung, die zum Strand nicht passt. Man nehme den Mann so wie er ist und montiere ihn auf einen Marktplatz, und wir hätten ein nicht zu beanstandendes Straßenfoto. Hier dagegen ist keine Straße, keine Stadt. Wir wissen nicht einmal ob wir am Meer sind, an einem See oder an einem Fluss.            
 

H.Schiele: "Street"



Auch die anderen Bestandteile wollen keinen Aufschluss geben. Es ist schon eine durchaus städtische Freizeitszene zu erkennen. Kinderwagen, Frau mit Zeitung, Rucksack und Korb. Ein Mann trotzdem nur mit einer kurzen Hose bekleidet. Mit all dem fällt das Bild als reines Strand-Motiv aus. Es könnte so auch in jedem Stadtpark sein. Das Wasser verkommt sowieso zur Nebensache, denn das Motiv ist der Mann. Damit scheidet das ganze Bild als Urlaubsfoto aus.            
Man erkennt außerdem nicht, was auf dem Bild wirklich zu sehen ist. Denn man weiß nicht, was auf dem Bild NICHT zu sehen ist. Das einzig konkrete ist ja, wie Mann und Frau mit Interesse etwas betrachten, wovon wir aber niemals erfahren werden, was es ist. Damit, und auch weil es spontan einfangen wurde, enthält es genug, das Aufmerksamkeit erfordert, und spätestens damit wird es, trotz der Abwesenheit der Straße, zum Straßenfoto, zur "Street Photography".            

Oder wir sehen auf Bild 121. Dort kann man es noch deutlicher machen. Sind die Personen zu sehen, ist es ein Straßenfoto. Wären sie es nicht, wäre es ein Bild vom Strand.             
 

H.Schiele: "Street"



Die Personen, so wie sie eingefangen sind, geben keinen Urlaubskontext her. Sie geben einen spontanen Straßenfoto-Kontext her. Platziert auf irgendeine Umgebung, erzeugen sie in jedem Fall den Straßenfoto-Kontext. Das ganze gilt sogar inklusive der Person, die im Wasser schwimmt. Sie ist genauso spontan eingefangen und ändert am Gesamtcharakter des Bildes nichts. Auch durch sie wird das Bild nicht zum Urlaubs-, oder  Strandbild, obwohl sie ja noch offensichtlicher alle Voraussetzungen dafür erfüllt: sie befindet sich am Strand, und schwimmt im Meer.            
Man erkennt das Grundmuster: bricht das Bild inhaltlich mit seinem ursprünglich leicht zu erkennenden oberflächlichen Ersteindruck, beginnt es Kunstwerk zu werden.            
Ich stelle auch fest: dass die Personen für das Bild entscheidend sind, und dass das Bild durch sie zum Straßenfoto wird, ändert sich auch nicht dadurch, dass die Personengruppe im Bildausschnitt winzig, der restliche Kontext aber riesengroß ist. So klein die Personen als Bildelement auch sein mögen, sie dominieren das Bild, und bestimmen seinen Kontext, sein Thema und seinen Charakter.            

Wir haben im Prinzip unten mit Bild 127 dasselbe Bild. Den Straßenkontext würde man hier schon weniger in Frage stellen, obgleich man natürlich erkennt, dass wir uns an einem Urlaubsort befinden. Die Art und Weise wie die beiden Personen eingefangen sind, ist dieselbe wie am Strand im Bild 121 davor.            
 

H.Schiele: "Street"



Um noch einen weiteren Faktor nicht zu ignorieren, sehen wir auf Bild 126 den Willen des Fotografen, sein Bild aus einem Urlaubskontext heraus zu nehmen.            
Die Bilder davor waren ja doch Schnappschüsse, bei denen man darüber sinnieren konnte, wieviel "Street"-Element sie letzlich enthalten.            
Dieses Bild 126 unterscheidet sich dadurch, dass der Fotograf viel mehr Einfluss zu nehmen versucht, das Bild in die eine der beiden Richtungen zu manövrieren - also weg vom Urlaubskontext, hin in Richtung Kunstbild.            
 

H.Schiele: "Street"


             
Nicht nur geben die Personen, bzw. deren Anordnung und Haltung, kein Urlaubsfoto her, auch die Betonung dieser Personen als prägender Bestandteil des Bildes sind offensichtlich. Hier haben wir auch eine Anordnung der Personen in der Bildmitte. Dazu kommt das Entfernen des Meeres durch Überbelichtung und das Verschieben des ganzen in den Kunst-, oder Möchtegern-Kunst-Bereich, durch schwarz-weiß-Konvertierung.            

Diese ganzen Überlegungen zum Urlaubsfoto und Straßenfoto Thema sind eigentlich simpel, und es wird schnell klar, dass es keine eindeutige Antwort gibt. Nur der Fotograf kann wissen, ob er sich im Urlaub befindet, oder auf einer Fotoreise. Auch, ob er sich als Amateur, Hobbyist oder Profi betrachtet oder bezeichnet, beurteilt er letztendlich selbst.            
Wenn er aber einen Begriff von der Straßenfotografie hat, hilft ihm das weiter. Und darum schadet das Nachdenken darüber nicht.

 

Bildjournalismus, Pressefotos

Vom Urlaubsfoto, der privaten Fotoreise und der Reportage über ferne Städte kommen wir dann auch zum Thema Bildjournalismus.            
Auf den ersten Blick sieht sich der Straßenfotograf hier eher nicht. Denkt man kurz darüber nach, stellt man aber fest: eigentlich ist es dasselbe. Die Abgrenzung in unseren Köpfen dürfte in dem Bereich zu finden sein, wo wir uns einen Bildjournalisten spontan als einen Reporter vorstellen, der an die Zeitung verkauft, oder an einen Verlag. Außerdem behandelt er auch Themen, die den Straßenfotografen nicht interessieren. Umgekehrt ist aber das Gegenteil der Fall. Nichts, was die Street-Fotografen fotografieren, könnte nicht auch als Bildjournalismus funktionieren, je nach Story, die erzählt werden soll.             
Der Übergang ist fließend, darüber wird es wohl kaum Differenzen geben. Der wesentliche Unterschied ist das Thema. Dieses ist bei den Reportage- oder Pressebildern vorgegeben. Zumindest wird es unmissverständlich transportiert.            
"Street"- Bilder sind spontan. Sie verfolgen, wenn überhaupt, die Themen lockerer, langsamer, häufig ungezwungener. Es ist dann oft trotzdem eine Reportage, eine Reportage im "Street-Style". Manchmal entdecken die Straßenfotografen ihr Thema erst während des Fotografierens, manchmal auch erst danach. Soweit ein grobes Muster der Unterscheidung.            
 

H.Schiele: "Street"



Wir sehen hier (Bild 096) sicherlich ein Straßenfoto. Die Gruppe Polizisten mag ja auf irgendein Ereignis hindeuten, aber davon ist nichts zu sehen. Wir haben also kaum mehr als eine Gruppe von Leuten fotografiert. Der Sinn kann sich nur im Straßenfoto-Kontext erschließen, kaum im journalistischen. Im Straßenfoto-Kontext ist das Bild quasi schon fertig. Im journalistischen Sinn ist das Thema noch nicht zu sehen.            
Wir sind also bereits an einer Grenze angelangt: Polizisten sind fast immer Teil eines journalistischen Kontextes, und wenn es auch nur an der Erwartung des Betrachters liegt. Die Natur der Uniform macht es fast unmöglich, Polizisten außerhalb ihres Arbeitsumfeldes zu betrachten. Denn sind sie privat unterwegs, tragen sie keine Uniform. Tragen sie eine Uniform, sind sie im Dienst. Versuche, Polizisten im Dienst, mit einem aus diesem Dienstverhältnis herausgelösten Gesichtsausdruck einzufangen, gibt es viele. Dabei sind wir aber wieder bei Effekthascherei, beim Fotografen, der auflauert, um den Protagonisten im richtigen, bzw. falschen, Augenblick zu erwischen. In den ersten Stolz über das Gelingen eines Bilds, dass z.B. einer Dienstperson oder einer "öffentlichen" Person hinter die Fassade geblickt hat, mischt sich bald der erste Zweifel, ob es nicht viel zu profan ist, was man dabei geschafft hat. Denn viel mehr als Paparazzi-Journalismus ist so etwas nicht.            

Aber was passiert hier, auf den beiden Polizisten-Bildern, Bild 096 oben und Bild 097 unten?            
Beide Bilder lösen den typischen Reportage-Charakter dadurch auf, dass die Polizisten in die Kamera blicken. Ich hatte das angesprochen bei dem Karnevalsbild 075 ("Zwei Bilder in einem") und bei "Personen von hinten". Was nun?            
Auch einem der beliebtesten "Street-Photography"- Mythen, dem heimlichen Fotografieren des stillen Beobachters, genügen sie nun nicht mehr. Man sieht aber, dass die Bilder jeweils unterschiedlich zustande kamen. Das zweite, Bild 97, wurde sehr wohl aus einer versteckten Position heraus begonnen: hinter dem Auto, und im Rücken von Polizist und Polizistin. Das er sich umdreht war sicher nicht geplant - eher "Street"-Style.            
Das Gegenteil sehen wir oben auf Bild 096. Der Fotograf steht ziemlich dreist vor der Gruppe, macht auf sich aufmerksam, und drückt ab - eher Paparazzi-Style. Aber trotzdem kein uninteressantes Bild. Es erfordert aber wesentlich mehr Angstfreiheit als die heimliche Methode. Oder ist es die Respektlosigkeit, über die wir im Teil 4 gesprochen hatten?            
 

H.Schiele: "Street"



Auf dem folgenden Bild 102 ist ein deutlicher Unterschied zu sehen, da der Fotograf nicht "mit im Bild" ist.            
 

H.Schiele: "Street"



Aber auch hier ist nicht erkennbar, worum es geht, so dass die Polizeitruppe im Hintergrund, das Umfeld, und natürlich die Frau im Vordergrund alle möglichen Geschichten erzählen könnten. Damit ist es ein klassisches Straßenbild. Leider mischt sich hier das populäre Frauen-in-Männerberufen-Thema mit ins Bild, so dass das Bild nicht mehr ganz unbeschwert ist.            
Aber wir können nichts für die Themenschwerpunkte, die der Zeitgeist uns setzt. Wir müssen sie nehmen wie sie kommen.            

Wie schön wir damit manipulieren, zeigen die beiden folgenden Bilder. Ist das erste noch ein Straßenfoto in irgendeinem Polizei-Kontext, ist das zweite ein Reportagefoto. Das erste hat nicht "zwei Bilder im Bild", auch wenn darin zwei Geschichten zu sehen sein mögen. Es ist nämlich nicht eine dieser Geschichten die Hauptgeschichte, neben der sich die andere einschleicht, sondern es ist schlicht ein Bild mit zwei Geschichten, die der Frau und die des Mannes. Wir können aber weder die eine noch die andere im Bild finden.            
 

H.Schiele: "Street"


 

H.Schiele: "Street"



Das zweite ist ein manipulatives Bild, das nur noch schwer neutral wahrgenommen werden kann. Heutzutage sind Pressebilder meistens Propagandabilder. Aber der einfache Pressefotograf hat eben nicht die künstlerischen Freiheiten, die der Straßenfotograf hat.            

Die letzten Jahre waren reich an Veranstaltungen. Von einer dieser Veranstaltungen stammt Bild 091.            
 

H.Schiele: "Street"



Dieses Bild würde jeder markieren, denn es enthält das offensichtliche Spiel, dass die Frau in eine andere Richtung fährt, als alle anderen. Natürlich ließe sich das mit allen möglichen Kontexten aufladen. Das gute an diesem Bild ist die Konsequenz, mit der sich alle Protagonisten an die Szene halten. Alle anderen, außer der Frau auf dem Roller, gehen ausnahmslos geschlossen in die andere Richtung. Soviel Glück hat man selten bei Schnappschüssen. Trotzdem ist es keine Alltagsszene, denn die Menschen gehen anlässlich einer Veranstaltung dort entlang. Ist es nun kein Straßenfoto mehr?            

Im Bild 95 ist es etwas anderes. Wir haben hierbei eine Straßenszene, die aus dem Mann mit der Kamera und dem Werbeplakat besteht.            
 

H.Schiele: "Street"



Alle weiteren Beteiligten, die Teilnehmer einer Demonstration, spielen keine Rolle. Wären alle außer dem Mann nicht da, es würde am Bild nicht viel ändern. Es bliebe der Mann, halb von der Säule verdeckt, und das Werbeplakat. Es ist, auch ohne die Menschenmenge, eine "Zwei-Bilder-im-Bild"-Story, wie im entsprechenden Teil beschrieben. Bei dieser hier wird das Bild von der auffälligen Beschriftung auf dem Poster dominiert. Der Mann, als zweites Motiv, kann von dem ersten Motiv nichts wissen, er kann es ja von seinem Standort aus nicht sehen. Trotzdem wird er vom Fotografen in einen Zusammenhang mit dem Spruch auf dem Plakat gebracht und erscheint plötzlich in einer unglücklichen Figur. Wir dagegen, wissen mehr als er, und nutzen diesen Vorteil, um uns ihm gegenüber in eine privilegierten Stellung zu manövrieren, aus der heraus wir ihn kompromittieren können. Dieses Plakat ist aber zusätzlich ein kreatives Werk eines Werbetexters, dass wir hier für unser Bild nutzen, was wir auch wiederum im entsprechenden Teil besprochen hatten. Ohne den Mann wäre es nur eine Abbildung dieses sehenswerten Werkes. Im Zusammenhang mit dem Mann wird es fraglich, ob nun das Werk eines anderen aufgewertet wird, oder abgewertet, das Werk als Kulisse für den Mann gebraucht wird, oder der Mann als Element genutzt wird, dass das Plakat stilisiert. Es ist auch nicht klar, ob nun wirklich der Mann lächerlich gemacht wird, oder das Werbeplakat und sein Inhalt. Das bleibt hier offen. Es erschien an dieser Stelle ja nur als Beispiel eines Reportage-Fotos, das im Gegensatz zu dem Bild von der Frau auf dem Roller, auch aus dem Reportage-Kontext herausgelöst funktionieren würde, also auch ein Straßenfoto sein könnte.            

Bildjournalismus ist natürlich nicht beschränkt auf Tätigkeiten bei Massenveranstaltungen. Alles aus dem Kunst- und Kulturbereich, Reise, Tagespresse und Sport, Biografien, Studien über übergreifende Themen, fällt dort hinein. Der Straßenfotograf darf jedes seiner Themen entsprechend aufbereiten und auf diesem Markt anbieten.

Tivoli

Protest

Karneval